Mainz Per Anhalter auf dem Rhein

Mainz · Anfang der 70er Jahre ist die Mutter unserer Autorin Johanna Heinz per Anhalter auf dem Rhein von Mainz nach Koblenz gereist. Ob das wohl heute auch noch funktioniert?

 Die Bonner Journalistin Johanna Heinz hat es ihrer Mutter nachgemacht und ist per Anhalter auf einem Schiff den Rhein abwärts gereist.

Die Bonner Journalistin Johanna Heinz hat es ihrer Mutter nachgemacht und ist per Anhalter auf einem Schiff den Rhein abwärts gereist.

Foto: Manuel Grifka

Den alten Mainzer Zoll- und Binnenhafen gibt es nicht mehr. Dort, wo jahrhundertelang Getreide, Sand und Kies verladen wurden, klafft jetzt eine riesige Baustelle. Von hier aus ist meine Mutter im Sommer 1972 per Rheinschiff nach Koblenz getrampt. Ob das wohl heute auch noch geht? Gemeinsam mit meinem Freund mache ich mich um 5.30 Uhr in der Früh auf den Weg zum Mainzer Rheinufer.

Mitten im Ödland zwischen dem neuen Containerhafen, der vor einigen Jahren rheinabwärts ins Industriegebiet verlegt wurde, und der Großbaustelle am alten Zollhafen steht am Ufer der Imbiss "Zum Schorsch". Alte Männer in Ballonseide sitzen auf Gartenstühlen und trinken Kaffee. Ansonsten ist rundherum nichts. "Hier ist alles tot", sagt der braun gebrannte Imbissverkäufer und zeigt zur Großbaustelle. Luxuswohnungen sollen dort entstehen, erzählt er. "5000 Euro pro Quadratmeter. Das ist nichts für unsereins."

Von der benachbarten Rheinbrücke aus kann man einen Blick auf die großen blauen Kräne erhaschen, mit denen die Container verladen werden. Von den Schiffen allerdings fehlt an diesem sonnigen Morgen jede Spur. Wann die denn wohl hier mal vorbeikommen, frage ich. "Sehr unterschiedlich. Das kann man nicht so genau sagen", sagt der Verkäufer. Dass wir an die Schiffe herankommen, glaubt er allerdings nicht. "Das ist alles Zollgebiet."

Sie hätten einfach am Abend zuvor einen Schiffer im Mainzer Hafen angesprochen, hat mir meine Mutter vom Sommer 1972 erzählt, und mit ihm verabredet, dass er sie am nächsten Morgen mitnimmt. Meine Mutter war damals 16 Jahre alt und mit vier Freundinnen aus der Andernacher Pflegevorschule unterwegs. Tagelang waren die fünf von Koblenz aus nach Mainz gewandert, durch den Westerwald und den Taunus, hatten sich von Brot und Käse ernährt, in Jugendherbergen übernachtet, auf Heuschobern und in den Partyschuppen der Dorfjugend. Dann suchten sie eine kostenlose Rückfahrt.

Wir versuchen es zuerst am Industriehafen. Aber dort liegt nur ein einziges Binnenschiff, direkt vor dem Nescafé-Werk, unbeladen und unbemannt. Also weiter zum Container-Terminal. Die Freude darüber, dass auf Google Maps all die schmalen Straßen eingezeichnet sind, die im Industriegebiet durch die Schluchten zwischen Fabrikhallen und Gaskraftwerk zum Ziel führen, hält nicht lange. Denn was das Smartphone nicht anzeigt, sind die meterhohen Zäune mit Stacheldraht und die videoüberwachten Tore, die uns immer wieder den Weg versperren. "Da seid ihr ja wieder", fasst die Frau an der Tankstelle unsere Niederlage in Worte. Mehr als drei Stunden ist es her, dass wir bei ihr mit dem ersten Kaffee unsere Hafen-Odyssee begonnen haben.

Mit 14 Jahren ist meine Mutter von zu Hause ins Wohnheim der Pflegevorschule in Andernach gezogen. Dort herrschte ein strenges Regiment. Einerseits seien die 14- bis 17-jährigen Mädchen wie Erwachsene rangenommen worden, hätten Schichtdienst in der Psychiatrie schieben müssen, erinnert sich meine Mutter. Dazu hatten sie als Minderjährige im ersten Jahr nur einen Tag in der Woche Ausgang, im zweiten zwei, im dritten drei, aber nur bis 18 Uhr. So entwickelten die Mädchen einen Hass auf Autoritäten und ein System, das es auf allen nur erdenklichen Wegen auszutricksen galt.

Während ich in einem Einfamilienhaus im Bonner Speckgürtel aufgewachsen bin, umsorgt und behütet, ist meine Mutter in einer Eifel-Kleinstadt groß geworden, ohne Heizung und mit den immer gleichen Weihnachtsgeschenken, die einige Wochen nach dem Fest wieder verschwanden. Kein Fernsehen. Das Einzige, was meine Mutter von der Welt gesehen hatte, resultierte aus einer Kinderlandverschickung ins nordhessische Bad Wildungen und einem Urlaub mit ihrer Mutter in Bayrischzell.

Angst hätte sie nicht gehabt, sagt meine Mutter. Trampen, das sei damals Alltag gewesen. Wenig später, als sie im Bonner Waldkrankenhaus und dann in den Rheinischen Kliniken gearbeitet und parallel an der Abendschule ihr Abitur nachgemacht hat, ist sie jeden Tag per Anhalter zur Arbeit gefahren. Und in den Urlaub nach Südfrankreich.

Die Eltern wussten natürlich nicht so genau, was die fünf Minderjährigen im Sommer 1972 trieben. Als eine Mischung aus Naivität und Abenteuerlust beschreibt meine Mutter heute ihren damaligen Seelenzustand. Irgendwie konträr zur Jugend von heute, die zwar mit zwölf die USA gesehen hat, sich aber mit 25 immer noch die Wäsche von Mutti machen lässt, denke ich.

Natürlich - es ist ja nicht mehr das Jahr 1972 - habe ich mich vor dem Aufbruch im Internet schlau gemacht. Ein paar vereinzelte Artikel, Blogs und Foreneinträge beweisen: Per Anhalter auf einem Binnenschiff fahren, das geht. Was für den gemeinen Tramper die Autobahnraststätte, das sei für den Schiffstramper die Schleuse, ist dort zu lesen.

Aber auf dem Rhein kommt nach dem badischen Iffezheim keine Schleuse mehr - wohl aber in Kostheim am Main, kurz bevor der in den Rhein mündet. Also machen wir uns per Bahn und Fußmarsch dorthin auf den Weg.

Nicht viel los auch hier - dafür, dass die Staustufe Kostheim eine der meistbefahrenen Schleusen Deutschlands sein soll. Wir warten. Plötzlich schiebt sich das Fenster des Büros auf. Was wir denn wollten, fragt der Schleusenwärter barsch. Nichts Böses, drucksen wir angesichts der vielen Betreten-verboten-Schilder herum; nur nach einer Mitfahrgelegenheit schauen. "Bergauf oder bergab?", fragt er. Richtung Koblenz, Köln. "Da kommt gleich der ,Hünenkönig', den funke ich mal an." Ob denn häufiger Leute versuchen, per Anhalter auf ein Schiff zu kommen, frage ich noch, bevor sich das Fenster wieder schließt. "Ganz selten", sagt der Schleuser. "Ab und zu Handwerkergesellen auf Wanderschaft."

Der "Hünenkönig" ist ein 110 Meter langer Frachter, gebaut 1939, benannt nach den norddeutschen Hünengräbern, mehrfach auf- und umgerüstet, zuletzt vor einigen Jahren in der Mitte durchgesägt und um ein gewaltiges Mittelteil verlängert. 2000 Tonnen Weizen hat er geladen und ist damit auf dem Weg ins belgische Gent. Er gehört Christina und Dirk, auf dem Schiff ist man gleich per Du. Sie wollen uns bis nach Köln mitnehmen. Als Partikulierfamilie sind die beiden selbstständige Schiffsbesitzer und an Bord für alles zuständig. Aber sie sind in einer Genossenschaft organisiert, für die 67 Schiffe fahren. Dirk, ein bulliger, herzlicher Typ mit breitem Grinsen, lebt auf dem Wasser, seit er 14 wurde. Sein Großvater war schon als Rheinschiffer unterwegs, bevor er im Ruhrgebiet unter Tage ging. Sein Onkel war Binnenschiffer, zwei seiner drei Söhne setzen die Tradition fort.

Wir werden mit Mittagessen, Kaffee und Obst versorgt. Gastfreundschaft, erklärt uns Christina, werde bei den Binnenschiffern ganz groß geschrieben. "Wenn zwei Schiffer aufeinandertreffen, und der eine hat eine Frau dabei und der andere nicht, dann wird für den ganz selbstverständlich mitgekocht." Bereitwillig wird uns das ganze Schiff gezeigt, vom Maschinenraum bis zu der Wohnung vorne am Bug, die sich der Auszubildende und der Matrose teilen. Unter dem Führerhaus im Heck des Schiffes verbirgt sich eine ausgewachsene Drei-Zimmer-Wohnung mit Küche, Flachbildschirm-Fernseher und Polstergarnitur, in der Dirk und Christina die meiste Zeit des Jahres leben.

Zu Hause, bei Würzburg, haben die beiden sich einen Bungalow gebaut, für den Ruhestand. Er ist 54, sie 47. Er glaube schon, dass er eines Tages vom Wasser lassen kann, sagt Dirk. Und schließlich fahren ja seine Söhne weiter, bei denen er bestimmt hin und wieder einspringen wird. Christina schüttelt den Kopf. "Im Leben nicht. Spätestens nach vier Wochen zu Hause wirst du unerträglich." Sie hatte in Passau eine Gastwirtschaft, bevor sie Dirk kennenlernte. Es war keine leichte Entscheidung, aufs Schiff zu gehen, sagt sie. Bereut hat sie es nicht.

Die Fahrt von Mainz nach Koblenz sei ihr irre lange vorgekommen, erinnert sich meine Mutter. Die fünf Tramperinnen hätten es sich im Bikini vorn vor der Ladung gemütlich gemacht. Der Schiffsführer, der im Gegensatz zu seiner eher reservierten Frau am Anfang noch nett und gesprächig war, sei Stunde für Stunde wortkarger geworden. Ob ihn die jungen Bikini-Trägerinnen nervös machten oder ihm mulmig wurde, weil er sich fragte, ob er sich Ausreißerinnen eingehandelt hatte? Am Abend habe der Schiffer sie in Koblenz abgesetzt - zu spät, um noch weiter nach Hause zu fahren. Die Fünf übernachteten auf Parkbänken am Deutschen Eck.

Das Reisen auf Rheinschiffen ist in der Tat nichts für Eilige. Zwischen 18 und 20 Kilometer legt der "Hünenkönig" pro Stunde zurück - talwärts. Zehn Stunden dauert die Fahrt nach Köln; langweilig wird es dabei aber nie. Im Führerhaus kommt die Kraft des 1300 PS starken Dieselmotors als beruhigendes Surren an, das perfekt mit dem Schuckeln der Wellen harmoniert. Der Schiffsführer thront auf einem am Boden verschraubten Busfahrersessel und steuert das Schiff - längst nicht mehr mit einem Steuerrad, sondern einem Joystick. Ein Navigationsgerät in der Größe eines Computerbildschirms zeigt neben Flussverlauf und Fahrrinne auch die Position der anderen Schiffe an.

14 Stunden fahren die beiden im Schnitt am Tag, auf dem Rhein, dem Main, der Donau und den Kanälen, los geht es meist um fünf in der Früh. "Viel Schlaf brauche ich nicht", sagt Dirk. Vor ihm steht eine kleine, goldene Buddha-Statue, die keiner anfassen darf. Sein Glücksbringer. Bänke bieten im Führerhaus der gesamten Besatzung und den beiden Gästen Platz. Wer hier sitzt, kann stundenlang den Anekdoten und Geschichten der Schifferfamilie lauschen und den perfekten Ausblick genießen, auf Burgen am linken und rechten Ufer, auf die Loreley, auf den bauchigen Kühlturm des seit fast 30 Jahren ungenutzten Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich, auf den Rolandsbogen und die Insel Nonnenwerth, den Posttower und die Jogger in der Bonner Rheinaue, die Wesselinger Raffinerie und die Kölner Kranhäuser. Dirk wendet das mächtige Schiff mitten auf dem Rhein, um gegen die Strömung anlegen zu können. Nach dem präzisen Einparken an der Deutzer Kaimauer nehmen wir gegen 21.30 Uhr Abschied vom Hünenkönig und seiner Besatzung.

Der Zug spuckt uns am Bonner Hauptbahnhof aus. Ich bin froh, dass ich mich, statt auf eine Bank am Deutschen Eck, in mein behagliches Bett fallen lassen kann.

(RP)
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