Ausverkauf eines Touristenmagnets Venedig hat die Grenze von 50.000 Einwohnern gerissen

Venedig gehört weltweit zu den beliebtesten Reisezielen. Trotzdem leben aktuell weniger als 50.000 Einwohner in der italienischen Stadt - Tendenz sinkend. Betreiben die Venezianer ihren eigenen Untergang?

 Über 30 Millionen Touristen zieht es jährlich nach Venedig. Während die Stadt bei Touristen weiterhin beliebt ist, sinken die Einwohnerzahlen immer weiter.

Über 30 Millionen Touristen zieht es jährlich nach Venedig. Während die Stadt bei Touristen weiterhin beliebt ist, sinken die Einwohnerzahlen immer weiter.

Foto: dpa-tmn/Bernhard Krieger

Einen Steinwurf von der Rialtobrücke in Venedig entfernt liegt der Campo San Bartolomeo. Der Platz ist eine Art Nabel Venedigs, weit weniger bekannt als der bei den Touristen so beliebte Markusplatz. Am Campo San Bòrtolo, wie ihn die Venezianer nennen, spielt sich das venezianische Leben ab, soweit es das noch gibt. Die Morelli-Apotheke an der Ostseite ist eine Institution der Stadt, ein in vierter Generation geführter Familienbetrieb, Anziehungspunkt für Stadtbewohner und Touristenführer und das nicht nur wegen Aspirin. Denn im Schaufenster der Apotheke steht seit bald 15 Jahren ein kleines, digitales Monument, das den Zustand der Stadt so präzise beschreibt wie nichts anderes. Der Einwohnerzähler zeigt den schwindenden Bevölkerungsstand in Venedig an, aktuell sind es noch 49 940. Seit Mitte August leben weniger als 50 000 Menschen in der Altstadt Venedigs, trauriger Rekord.

Matteo Secchi hat den Zähler im März 2008 aufgestellt. „Wir waren mit Freunden beim Abendessen, haben über den Bevölkerungsschwund diskutiert und uns gefragt, wie man angesichts des Touristenansturms auf dieses Problem hinweisen kann“, erzählt der 52-Jährige. Die Freunde seiner Gruppe venessia.com fragten beim Apotheker Morelli an, der immer schon einen Sinn für die Stadtgeschichte hatte. Seither können sich die Venezianer im Schaufenster ihres langsamen Untergangs versichern, auch Reiseführer bringen ihre Gruppen hierher. „60 620“ zeigte die rote Punktanzeige damals an, so viele Menschen lebten 2008 noch in Venedig. Als die 60 000-Marke unterschritten wurde, organisierten Secchi und Co. ein „Begräbnis Venedigs“, als 55 000 erreicht waren, packten 500 Demonstranten beim „Venexodus“ symbolisch ihre Koffer. Verständlicherweise wird man bei der Inszenierung des eigenen Untergangs über die Jahre ein wenig müde. Als vor ein paar Wochen die Zahl 49 997 aufleuchtete, hängten die letzten Venezianer nur noch Plakate aus den Fenstern.

Jede Woche gibt Secchi per Fernbedienung vor der Apotheke die neuen Zahlen ein, die ein pensionierter Telekommunikationstechniker aus dem städtischen Melderegister errechnet. Knapp 30 Millionen Touristen kommen jährlich in die Stadt, für die Einwohner, die 1951 noch 170 000 waren, wird das Leben immer ungemütlicher. „Gestern erst musste ich zwei picknickende Touristen bitten, meinen Hauseingang freizumachen“, erzählt Secchi. Einkaufen ist schwierig, kleinere Läden gibt es kaum noch, die Mieten werden angesichts der zahllosen Touristenwohnungen immer teurer. „Wir sind umzingelt, wir sind Fremde bei uns zuhause“, sagt Secchi der heute als Portier im Hotel Ca' D'Oro arbeitet, früher selbst ein Hotel führte und damit in gewisser Weise auch seinen Teil zur Metamorphose der Stadt beiträgt. „Venedig wird von den Venezianern ausverkauft, wir wollen Business machen und bringen uns auf diese Weise um“, sagt er. Der 2020 verstorbene Stefano Soffiato, Gründer von venessia.com verkaufte ebenfalls Touristen-Nippes – und dokumentierte gleichzeitig den Verfall seiner Stadt.

Wer also soll diese Venezianer vor sich selbst retten? Wer bleiben will, hat kaum eine andere Möglichkeit, als im Tourismus zu arbeiten. „Die Stadt ist ein Fake, es fehlt das echte Leben“, sagt Secchi. Der Großteil der ehemaligen Stadtbevölkerung lebt heute auf dem Festland in Mestre oder Marghera, das gilt auch für 55 von 60 Stadträte. Es ist schlicht bequemer dort, und billiger. Nach dem Hochwasser von 1966 gab es einen ganzen Schwung von Umzügen, seither tröpfelt es weiter. „Der moderne Venezianer lebt auf dem Festland und nutzt Venedig als Gelddruckmaschine“, behauptet Secchi. Denn die teuer an Touristen vermieteten Wohnungen gehören meist Venezianern, ebenso die zahllosen Immobilien, in denen heute Souvenirs oder Pizza verkauft werden. Die Politik? „Es gab Versuche, mehr Gleichheit für die Bevölkerung zu schaffen, aber letztlich sind alle gescheitert“, sagt Secchi. Er findet, beispielsweise hätten die 15 Millionen Euro für die 2008 eröffnete Brücke des Stararchitekten Santiago Calatrava am Bahnhof für die Renovierung der 2000 leerstehenden Sozialwohnungen in Venedig verwendet werden können.

Ob es überhaupt eine Medizin für diese Stadt gibt, fragt man am Besten einen Arzt oder Apotheker. Andrea Morelli, der den Einwohnerzähler in seinem Schaufenster beherbergt, hat gleich vier Ideen. Die Universität und der sie umgebende Kosmos müsse weiter gefördert und ausgebaut werden. So käme mehr Stadtkultur zustande, mehr junge Menschen kämen in die Stadt zum Leben. Die Stadtverwaltung solle zudem ein Minimum an Handwerksbetrieben halten und den ausufernden Immobilienmarkt mit Mietobergrenzen bremsen. Schließlich könnten auch die vielen verlassenen Klöster, Kirchen, Krankenhäuser und Kasernen neuen, sozialen und kulturellen Nutzungen zugeführt werden, meint der Apotheker. Bis es soweit ist, bedient auch er den traditionellen Markt. Die meist verkauften Produkte in seiner Apotheke? „Schmerzmittel, Beruhigungsmittel und immer mehr Antidepressiva“, sagt Morelli.

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