Erstochenes Mädchen in Viersen Neuneinhalb Jahre für Iulias Ex-Freund

Viersen/Mönchengladbach · Das Gericht hat die tödlichen Messerstiche im Casinogarten als Mord gewertet — und blieb nur wenig unter der Höchststrafe. „Ein gutes Urteil“, sagt der Anwalt der Opferfamilie. Die Verteidiger wollen in Revision gehen.

 Staatsanwalt Stefan Lingens hatte in seinem Plädoyer ausgeführt, eine schlimmere Tat als die des Angeklagten könne er sich kaum vorstellen.

Staatsanwalt Stefan Lingens hatte in seinem Plädoyer ausgeführt, eine schlimmere Tat als die des Angeklagten könne er sich kaum vorstellen.

Foto: dpa/Roland Weihrauch

Um kurz nach 13 Uhr geht ein junger Mann mit versteinertem Gesichtsausdruck an der halb geöffneten tiefbraunen Holztür des Sitzungssaals A100 vorbei, wird erst in letzter Sekunde gewahr, dass er sein eigentliches Ziel fast schon verpasst hat. Dann betritt er den Saal. Dort im Landgericht Mönchengladbach soll das Urteil über den Mann fallen, der seine Tochter getötet hat, am helllichten Tage, mitten im Casinogarten in Viersen. Der Ex-Freund seiner Tochter hatte sich zwei Tage nach der Bluttat der Polizei gestellt. In einer Erklärung beim Prozessauftakt räumte er den Tathergang ein.

War es Mord? Davon geht die Staatsanwaltschaft aus. Staatsanwalt Stefan Lingens führte in seinem Plädoyer aus, eine schlimmere Tat als die des Angeklagten könne er sich kaum vorstellen. Der Erziehungsbedarf gebiete daher die Verhängung der gesetzlich vorgesehenen Höchststrafe. Die liegt im Jugendstrafrecht – zum Tatzeitpunkt im Juni 2018 war der Ex-Freund 17 Jahre alt – bei zehn Jahren. Zehn Jahre hatte auch Steffen Hahn gefordert. Der Viersener Anwalt vertritt die Familie von Iulia, die als Nebenkläger auftritt. Oder war es gar kein Mord? Der Angeklagte hatte zu Prozessbeginn erklärt, er habe seiner Ex-Freundin nur drohen wollen, mit dem Küchenmesser mit der 15 Zentimeter lange Klinge. Dass er sechsmal in ihren Oberkörper stach, daran könne er sich nicht erinnern. Seine Verteidiger plädierten am Montag auf einen minder schweren Fall des Totschlags.

Eigentlich sollte der Prozess bereits am 6. Februar vorbei sein. Dann sollte das Urteil in der vergangenen Woche fallen. Dann war der Richterspruch für den Montag dieser Woche geplant. Dann wurde das Urteil auf diesen Mittwoch verschoben. Für den Vater von Iulia eine Berg- und Talfahrt. Er nimmt auf dem Platz des Nebenklägers Platz. Dann schließt der Gerichtsdiener die Tür, über der die handgeschnitzte, blattgoldverzierte Justizia dargestellt ist, mit verbundenen Augen, der Waage in der linken Hand, dem Schwert in der rechten. Vor dem Saal leuchtet das Schild „Nicht öffentlich“ auf. Im Gegensatz zu Verfahren gegen Erwachsene findet die Hauptverhandlung gegen Jugendliche bis 18 Jahren grundsätzlich nicht öffentlich statt, um ihnen einen besonders ausgeprägten Persönlichkeitsschutz zu gewährleisten und ihre künftige Entwicklung nicht durch schädliche Publicity zu gefährden. Der Angeklagte hatte erst nach Prozessbeginn seinen 18. Geburtstag.

 Viele Viersener nahmen Anteil an der Tat, versammelten sich bei einer Gedenkveranstaltung im Casinogarten.

Viele Viersener nahmen Anteil an der Tat, versammelten sich bei einer Gedenkveranstaltung im Casinogarten.

Foto: Bauch, Jana (jaba)

Auf dem Weg zum Gericht hat Iulias Vater in der Bibel gelesen. Der Glaube trage die Familie durch die schwere Zeit, erklärt ein Freund der Familie. Kraft gegeben hat der Familie auch die große Anteilnahme der Viersener. Mehr als 400 Menschen nahmen an einer Gedenkveranstaltung für Iulia teil, versammelten sich nach einem Zug durch die Innenstadt am Tatort im Casinogarten. Auch 282 Tage nach der Tat, am Tag der Urteilsverkündigung, stehen dort Blumen zum Gedenken an Iulia: Gerbera, Rosen und Tulpen, auch Geranien aus Plastik sind dort zu sehen.

Seine Bibel hat Iulias Vater in den Saal mitgenommen. Wird Gott seine Gebete erhören? Er wollte seiner Familie ein besseres Leben bieten. Der Maurer aus Rumänien hatte von dem guten Ausbildungssystem in Deutschland gehört, seine drei Kinder sollten es nutzen können. Bewusst entschied er sich dafür, im Rahmen der Freizügigkeit der EU seinen Wohnsitz in Deutschland zu wählen.

 Engel, Kerzen, Blumen: Auch am Tag der Urteilsverkündung wurde im Casinogarten in Viersen des Mordopfers gedacht.

Engel, Kerzen, Blumen: Auch am Tag der Urteilsverkündung wurde im Casinogarten in Viersen des Mordopfers gedacht.

Foto: Sebastian Esch

Als die Richter den Saal betreten, erheben sich alle im Saal – und bleiben gleich zur Urteilsverkündung stehen. Das ist schnell gesprochen. Neun Jahre und sechs Monate muss der Angeklagte in Haft. Das ist nah an der Höchststrafe. Mehr als zehn Jahre sieht das Gesetz nicht vor, Das Jugendstrafrecht soll in erster Linie erzieherisch wirken. Durch die „noch jugendlich beschränkte Einsicht der Täter soll vorrangig nicht Vergeltung für das begangene Unrecht geübt werden, sondern den jugendlichen Straftätern das Falsche an ihrem Verhalten verdeutlicht und ihnen das nötige Rüstzeug für eine Verhaltensänderung an die Hand gegeben werden“, heißt es aus dem NRW-Justizministerium.

Der Vorsitzende Richter sagt, er wolle das Urteil noch kurz begründen. Das dauert knapp eine halbe Stunde. Die Kammer macht deutlich, dass sie davon überzeugt ist, dass es Mord war, was im Casinogarten geschah. Weil der Angeklagte vorher gedroht hat, seine Ex-Freundin umzubringen. Weil er ein Küchenmesser „planvoll mitgeführt“ hat. Und nicht zuletzt „wegen der Häufigkeit der Messerstiche gegen den Oberkörper des Opfers“. Damit sei das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt. Für den Angeklagten habe gesprochen, dass er sich der Polizei gestellt habe und dass er den Tathergang – wenn auch nicht die Tötungsabsicht – einräumte.

Vor der geschlossenen Tür warten Reporter. RTL ist da, Sat.1, die Nachrichtenagentur DPA. Gerichtssprecher Raimond Röttger teilt das Urteil mit.  Der Angeklagte habe die Tat in seinem letzten Wort bedauert und sich bei den Eltern von Iulia entschuldigt. „Es ist ein gutes Urteil“, sagt Anwalt Steffen Hahn, Rechtsbeistand der Familie. „Der Vater ist beruhigt, das Gericht hat das Schicksal der Familie sehr ernst genommen.“ Der Anwalt des Angeklagten kritisiert hingegen den Richterspruch. „Das Urteil bewegt sich knapp unter der Höchststrafe. Ob man bei einem Jugendlichen wirklich neuneinhalb Jahre braucht, um das Erziehungsdefizit aufzuarbeiten, wage ich zu bezweifeln“, sagt Strafverteidiger Helmuth Jenrich aus Viersen. Und: „Wir werden selbstverständlich in Revision gehen.“ Als er das sagt, ist Iulias Vater schon gegangen.

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