Kreis Viersen Ihre Stimme zählt nicht mehr

Kreis Viersen · In weniger als zwei Wochen sind fast 62 Millionen Bürger aufgerufen, eine neue Bundesregierung zu wählen. Doch es gibt auch Menschen, die kein Wahlrecht mehr haben. Es wurde ihnen entzogen.

 Wird ein Mensch aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung zur Besorgung all seiner Angelegenheiten unter Betreuung gestellt, kann das Betreuungsgericht auch das Wahlrecht entziehen.

Wird ein Mensch aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung zur Besorgung all seiner Angelegenheiten unter Betreuung gestellt, kann das Betreuungsgericht auch das Wahlrecht entziehen.

Foto: Busch

Das Wahlrecht ist eine tragende Säule der Demokratie. Eigentlich darf jeder volljährige deutsche Bürger am Sonntag, 22. September, seine Stimme abgeben. Genauso gut kann sich jeder entscheiden, nicht zu wählen. Doch in Deutschland gibt es viele Bürger, die diese Entscheidung nicht mehr selbst treffen können. Ihnen wurde das Wahlrecht entzogen, sie dürfen nicht mehr abstimmen.

Das Bundeswahlgesetz sieht verschiedene Fälle vor, in denen einem Bürger sein bislang bestehendes Wahlrecht genommen werden kann. So kann einem verurteilten Straftäter unter engen Voraussetzungen das Wahlrecht entzogen werden, das gilt auch für einen Patienten im Maßregelvollzug. Wesentlich häufiger trifft der Stimmverlust jedoch Bürger, die unter rechtlicher Betreuung stehen. Der Betreuer übernimmt in der Regel einige oder alle Aufgaben, die der Betroffene aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung nicht selbst ausführen kann.

Dieser Ausschluss betrifft besonders an Demenz erkrankte Menschen. Mehr als 1,4 Millionen Menschen in Deutschland sind derzeit an Demenz erkrankt. Rund 4200 davon leben im Kreis Viersen. Natürlich wird nicht jedem neu Erkranktem automatisch das Wahlrecht entzogen. Nur wer zur "Besorgung aller seiner Angelegenheiten" einen Betreuer braucht, kann nach dem Bundeswahlgesetz ausgeschlossen werden.

Darüber entscheidet das zuständige Betreuungsgericht und teilt das Ergebnis der Kommune mit. Der erkrankte Mensch wird aus dem Wählerverzeichnis gestrichen. Damit erhält er auch keine Wahlbenachrichtigung.

"Weder der Kreis noch die kreisangehörigen Städte und Gemeinden prüfen, ob ein Senior noch wählen kann oder als dement hierzu nicht mehr in der Lage ist. Solange eine Person nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen ist, muss der Wahlvorstand auch bei bestehenden Bedenken die Person wählen lassen", erklärt der Sprecher des Kreises Viersen, Axel Küppers.

Dahinter steckt eine heikle Frage: Entzieht man einem Menschen ein wesentliches Recht oder nimmt man die Gefahr der Manipulation der Wahl hin? "Ein Missbrauch kann bei dementen wie auch bei nichtdementen Personen nicht ausgeschlossen werden", räumt Küppers ein.

Insbesondere bei der Briefwahl kann kaum kontrolliert werden, wer tatsächlich das Kreuzchen auf dem Wahlzettel gesetzt hat. War es der Wähler selbst? Oder hat ein Familienmitglied oder gar ein Mitarbeiter eines Seniorenheims eigenmächtig gehandelt? Das ist verboten, ein Stellvertreterwahlrecht gibt es in Deutschland nicht.

Hilfe beim Wählen ist nicht verboten

Hilfe bei der Abstimmung ist jedoch nicht grundsätzlich verboten, solange sie den Wähler nicht in seiner Entscheidung beeinflusst. So darf der Wahlzettel vorgelesen oder gar Hilfe beim Ankreuzen geleistet werden. Auch das Falten des Stimmzettels und der Einwurf in die Urne dürfen unterstützt werden.

Viele Verbände fordern die Änderung des Wahlrechts. Darunter sind die Lebenshilfe, der Deutsche Behindertenrat und der Betreuungsgerichtstag. Ihnen ist das Ausschlussrecht des Bundeswahlgesetzes schon lange ein Dorn im Auge. Gemeinsam fordern sie, entsprechende Regelungen zu streichen: "Es besteht inhaltlich kein Zusammenhang zwischen der Anordnung einer rechtlichen Betreuung und dem Wahlrecht. Im Verfahren wird die Fähigkeit zur Beteiligung an einer Wahl nicht geprüft", heißt es. Ein automatischer Verlust des Wahlrechts sei häufig weder bekannt noch erwünscht, so die Erklärung der Verbände.

"Das Betreuungsrecht darf nicht dazu dienen, Menschen von der rechtlichen Teilhabe auszuschließen, sondern soll deren rechtliche Teilhabe ermöglichen", sagt Karl-Heinz Zander, Geschäftsführer des Betreuungsgerichtstags.

Auch die Lebenshilfe in Viersen, die sich um die Belange geistig behinderter Menschen kümmert, hält eine Änderung des Gesetzes für erforderlich. "Eine vollständige Betreuung sagt letztlich nichts über die tatsächliche Wahlfähigkeit des Menschen aus. Außerdem glaube ich auch nicht, dass sich tatsächlich jeder mündige Wähler ausführlich über die Programme der Parteien informiert", sagt Frank Zillessen von der Lebenshilfe in Viersen.

Die Verbände verweisen in diesem Zusammenhang gerne auf das Nachbarland Österreich: Dort gibt es ein uneingeschränktes Wahlrecht für volljährige Bürger.

(RP)
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