Justizvollzugsanstalt Lüttringhausen in Remscheid Flucht aus dem offenen Vollzug

Remscheid · Seit Juli 2017 sind 86 Personen aus dem Offenen Vollzug in der JVA Lüttringhausen getürmt. In ganz NRW waren es 500.

   Wegweiser vor den hohen Mauern der JVA.

Wegweiser vor den hohen Mauern der JVA.

Foto: Schümmelfeder/MIKKO Schümmelfeder

Sie sind über den Maschendrahtzaun getürmt oder vom Hafturlaub nicht zurückgekommen. Manche sind morgens zur Arbeit gegangen und einfach weggeblieben. Wieder andere waren kurz mal weg über den Zaun – und noch vor der „Zählung“ wieder zurück. Letztere fallen nicht in die Statistik der Landesregierung, die dort vor kurzem dem Rechtsausschuss vorgelegt wurde. Landesweit sollen jedenfalls seit Juli 2017 beinahe 500 Gefangene aus dem offenen Vollzug verschwunden sein, davon allein 86 aus der JVA an der Masurenstraße in Lüttringhausen.

Eine Zahl, die aufhorchen lässt. Und die vor allem eine Frage aufkommen lässt: Was ist da los in den Haftanstalten? Können Gefangene einfach ihre sieben Sachen packen und verschwinden? Wobei von Verschwinden ohnehin keine Rede sein kann – die Leute sind auf der Flucht und werden zur Fahndung ausgeschrieben. Einige der Flüchtigen sind freiwillig wieder zurückgekehrt, andere wurden aufgegriffen. Fünf Gefangene sind noch immer flüchtig.

Spricht man mit Katja Grafweg über derartige Hiobsbotschaften, so rückt die JVA-Leiterin die Dinge unmissverständlich ins rechte Licht. Eine solche Statistik sei für den Laien verwirrend und erklärungsbedürftig – vor allem auch deshalb, weil es im offenen Vollzug nun mal anders zugehe als im geschlossenen Zellentrakt nebenan. Da sei zuallererst der Zaun: Die zwei Höhenmeter Maschendraht seien nicht dazu gedacht, jemanden von der Flucht abzuhalten. „Wir trauen denjenigen Selbstkontrolle zu, die dort untergebracht sind“, sagt Grafweg. Die JVA-Leiterin macht keinen Hehl daraus, eine engagierte Streiterin für den offenen Vollzug zu sein. Und dennoch sei klar, dass das nicht bei jedem Insassen möglich und vor allem auch eine gute Idee ist.

Bei schweren Straftaten rücken derartige Lockerungen ohnehin in weite Ferne, bei Sexualstraftätern sind sie nahezu ausgeschlossen. Allenfalls am Ende einer langen Haftzeit könne der offene Vollzug dabei helfen, die Resozialisierung gelingen zu lassen. Ansonsten kämen vor allem diejenigen dorthin, die sich bei der Urteilsverkündung auf freiem Fuß befinden. Und das wiederum spreche dafür, dass keine Fluchtgefahr bestehe – und auch dafür, dass von den Straftätern keine Gefahr ausgehe.

 Katja Grafweg leitet das Gefängnis – und relativiert die scheinbar hohe Zahl der Geflüchtete aus dem Offenen Vollzug.

Katja Grafweg leitet das Gefängnis – und relativiert die scheinbar hohe Zahl der Geflüchtete aus dem Offenen Vollzug.

Foto: Moll, Jürgen (jumo)

„Wir haben hier auch viele Ersatzstrafler“, erklärt Grafweg. Damit sind diejenigen gemeint, die eine gegen sie verhängte Geldbuße nicht bezahlen können und eine sogenannte „Ersatzhaft“ antreten müssen. Von wenigen Tagen bis zu mehreren Wochen und Monaten ist da alles möglich. In den Urteilen der Inhaftierten liest man etwas von notorischer Schwarzfahrerei oder auch vom Fahren ohne Führerschein. Wer sich widerrechtlich Sozialleistungen erschlichen hat und die Geldstrafe nicht zahlen kann, landet ebenso hinter Gittern. Wobei die im offenen Vollzug nicht vorhanden sind: Dort gibt es keine Zellen sondern „Stuben“, zu denen die Inhaftierten dazu auch noch einen eigenen Schlüssel haben.

Manche nutzen ihre 20 Tage Hafturlaub, um jedes zweite Wochenende bei der Familie zu sein. Einige haben ihren Job behalten und kommen nach Feierabend zurück an die Masurenstraße. „Der offene Vollzug hat den Zweck, die Lebenssituation zu bewahren“, sagt Grafweg über die gewollten Vorteile, die eine solche Unterbringung haben kann. Jemanden aus seinen sozialen Bezügen zu reißen und damit zu riskieren, dass alles zusammenbricht – das sollte vermieden werden, wo immer es geht.

Dass es dennoch Inhaftierte gibt, die mit den Lockerungen nicht umgehen können und die Flucht antreten? Nun ja, deren Leben werde dadurch nicht leichter. Sie werden zur Fahndung ausgeschrieben, an der Haustüre klingelt die Polizei – und die meisten gehen den Beamten irgendwann ins Netz. Manche rufen auch nach Tagen in der JVA an, um zu erklären, warum sie aus dem Hafturlaub nicht zurückgekehrt sind. Streit mit der Ehefrau oder Kinder, die plötzlich krank sind: Es gibt zuweilen Gründe, die Grafweg sogar verstehen könnte. Allerdings erwartet die JVA-Leiterin von den Häftlingen dann, dass sie sich zuverlässig melden. Dann könne man auch darüber nachdenken, den Freigang möglicherweise zu verlängern. Das alles laufe auf Vertragsbasis, aber eines sei klar: „Wer im offenen Vollzug ist, muss sich an die Spielregeln halten.“ Wer das nicht tut, muss mit den Konsequenzen leben und die bedeuten in diesem Fall: Umzug in die Gefängniszelle.

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