Ratingen Kommt jetzt die Bienek-Straße?

Ratingen · Der Hauptausschuss hat entschieden: Die Ostpreußin Agnes Miegel und der Oberschlesier Hermann Stehr werden wegen ihrer Verstrickung mit dem NS-Regime als Straßennamensgeber abgesetzt.

Jetzt müssen neue Namen her. Ein Verband und RP-Leser haben bereits Vorschläge gemacht.

Als komplettes Kontrastprogramm wären jetzt natürlich unverfängliche Feld-, Wald- und Wiesennamen denkbar, aber die Diskussion ist längst einen Schritt weiter. Kurz nachdem die Wellen wegen des Protests der von der Umbenennung betroffenen Anwohner im Bezirksausschuss Homberg hochschlugen, meldete sich schon die Landsmannschaft der Oberschlesier zu Wort.

Auf die Diskussion, ob bekennende Nationalsozialisten wie der Schriftsteller Hermann Stehr als Straßennamensgeber tragbar sind oder nicht, stieg sie gar nicht ein, sondern schlug — als Ausdruck einer Erinnerungskultur, die das "kulturelle Erbe der ehemaligen deutschen Ostgebiete" im Blick hat — gleich einen neuen Namenspatron vor: den Autor Horst Bienek.

Verweis auf die neuere Geschichte

Mit Horst Bienek — geboren 1930 in Gleiwitz (heute Gliwice), 1946 vertrieben und 1990 in München verstorben — würde eine "facettenreiche Persönlichkeit der neueren Geschichte geehrt", sagt die Landsmannschaft. Bieneks Werk ist mit zwei Städtenamen verbunden, Workuta und Gleiwitz. 1952 wurde der 22-Jährige in Ost-Berlin wegen angeblicher Spionage und "Sowjethetze" zu 25 Jahren Zwangsarbeit im nordrussischen Workuta verurteilt. Nach einer Amnestie siedelte er in die BRD über und veröffentlichte sein "Traumbuch eines Gefangenen". Bekannt wurde er vor allem durch seine Gleiwitz-Tetralogie, war bis zu seinem Tod Leiter der Literaturabteilung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

Kulturamtsleiterin Andrea Töpfer findet den Vorschlag "nicht uninteressant". Der Ansatz, den regionalen Bezug der beiden Straßen zu erhalten, ist ihr nicht unsympathisch, zumal die Vorschläge der Verwaltung — Benennung der Straßen nach Nelly Sachs, Ingeborg Bachmann oder Else Lasker-Schüler — im Hauptausschuss keine helle Begeisterung auslösten.

Ein weiterer interessanter Kandidat aus Schlesien ist sicherlich der 1902 in Görlitz geborene Kabarettist Werner Finckh, der die Nationalsozialisten mit seinen anspielungsreich unvollendeten Sätzen und Doppeldeutigkeiten zunächst austrickste, später dennoch Berufsverbot bekam, schließlich verhaftet wurde und in ein Konzentrationslager kam, dem er sich nur durch Kriegsdienst entziehen konnte. Bertolt Brecht widmete ihm 1947 das Gedicht "Eulenspiegel überlebt den Krieg".

Für Schlesien wären also Kandidaten da — und auch für Ostpreußen: Siegfried Lenz, Arno Surminski oder Ernst Wiechert (1887-1950), der 1933 und 1935 an Studenten appellierte, sich kritisches Denken gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie zu bewahren — und später im Konzentrationslager Buchenwald interniert wurde. Auch Johannes Bobrowski (Vorschlag eines RP-Lesers) könnte die durch epigonale, schwermutsvolle und betont heimatliche Balladen bekannt gewordene Agnes Miegel (1879-1964) beerben, die Hitler bewunderte, Hymnen auf Krieg und Führer verfasste, noch 1940 in die NSDAP eintrat, sich nach dem Krieg aber als unpolitische Dichterin darstellte und heute als Ikone der Rechtsextremisten gilt.

Der Lyriker Johannes Bobrowski kam 1917 im ostpreußischen Tilsit zur Welt. Er lehnte eine NSDAP-Mitgliedschaft ab, die ihm den Weg zum Studium geebnet hätte, hatte Kontakt zum christlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und setze seine Erfahrungen der Brutalität des Kriegs in mehreren Gedichtzyklen um. Prägend für ihn war die multikulturelle Gegend um die Memel, wo Deutsche, Litauer, Polen, Russen und Juden bis zum Zweiten Weltkrieg zusammenlebten. Im Gegensatz zum Vertriebenenverband stellte Bobrowski die Oder-Neiße-Grenze nie infrage, empfand vielmehr Scham und Schuld gegenüber den Nachbarn. Er starb 1965.

Auf eine weitere Straßennamenskandidatin macht Stadtarchivleiterin Erika Münster aufmerksam: Die Jüdin Else Ury, die durch ihre "Nesthäkchen-Bücher" Millionen von Kindern vor und nach den Kriegen Freude bereitete, lebte zuletzt zurückgezogen in ihrem Haus "Nesthäkchen" in Krumhübel/Schlesien (heute Karpacz). 1941 wurde sie enteignet und 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Ihr Schicksal sei heute weitgehend unbekannt, so Münster.

(RP/rl)
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