Meerbusch Die Welt der Hungersteine

Meerbusch · Das extreme Niedrigwasser eröffnet faszinierende Blicke ins Flussbett: In der ausgedehnten Sand- und Steinlandschaft zwischen Mönchenwerth und Nierst liegen für wenige Tage die so genannten Hungersteine, Kriegsschrott und allerlei Rätselhaftes frei.

Meerbusch ist im Moment eine Stadt mit rekordverdächtig breitem Strand. Der kurzzeitige Rückzug des Flusses gibt den Blick frei auf eine bizarre Landschaft aus glatt gespülten Hungersteinen, Stahltrossen und rätselhaften Objekten, die zuvor jahrelang vom Wasser bedeckt waren. Der Pegel lag in dieser Woche mit 50 Zentimeter nur noch neun Zentimeter über dem tiefsten je gemessenen Stand nach dem Hitzesommer 2003.

Wer jetzt nicht am Rhein spazieren geht, hat etwas verpasst, sagen sich viele Meerbuscher und pilgern zum Strom. Beliebt ist speziell das Ufer zwischen Modellflugplatz und Flughafenbrücke. Dort türmen sich Überreste der so genannten Steinernen Bänke. So bezeichnete man in früheren Jahrhunderten eine aus Braunkohlenquarzit bestehende, langgezogenen Felsen-Ansammlung im Flussbett zwischen Mönchenwerth und Ilverich.

Der Volksmund sprach von Hungersteinen, da die Brocken nur bei Niedrigwasser sichtbar waren und dies als Zeichen für schlechte Ernte galt. Bis ins 19. Jahrhundert kam es durch dieses Hindernis immer wieder zu Schiffsunglücken.

1884/85 wurden die Steinernen Bänke schließlich gesprengt und die Bruchstücke am linksrheinischen Ufer verteilt. Zum Transport nutzten die Sprengmeister des Kaiserreichs dicke Stahlseile. Diese zogen sie durch Löcher in den Steinen, die vor Millionen von Jahren durch eingeschlossenes Wurzelwerk entstanden waren (man spricht auch von Lochquarzit). Einzelne, daumendicke Stahlschlingen sind bis heute erhalten.

Manche Steine geben Rätsel auf. Auf einem der tonnenschweren Quarzite findet sich zum Beispiel eine Gravierung. Dort ist der Name Gerhard eingeritzt, dazu ein Kreuz und das Datum "31.12.1775". Eine Widmung für einen an einem Silvestertag auf den Steinernen Bänken tödlich verunglückten Schiffer? Der Text steht kopfüber. Das deutet darauf hin, dass der Fels mit der Inschrift ursprünglich Teil der Steine war, die vor 123 Jahren gesprengt und außerhalb der Fahrrinne abgelegt wurden.

Gut zu tun hat zurzeit der Kampfmittelräumdienst. Immer wieder entdecken Spaziergänger angerostete Handgranaten und Flakmunition im Sand. "Nicht anfassen!", warnen die Behörden. Vor wenigen Tagen bargen Archäologen sogar die Tragfläche eines vermutlich amerikanischen Jagdflugzeugs bei Büderich, das wohl um 1943 dort abgestürzt ist. Die Experten wollen nun versuchen, die dahinter steckende Geschichte zu recherchieren.

Bei vielen der vor sich hin rostenden Schrottteile ist die Herkunft unklar. In Höhe Modellflugplatz ragt ein Objekt aus gebogenen Metallstreben ein Stück aus dem Wasser: mehr als vier Meter lang und teilweise im Sand begraben.

Der Rest eines vor Jahren gesunkenen Beiboots? Oder ein weiteres Kriegs-Relikt? Wie auch immer: Viel Zeit, die Spuren vergangener Jahrhunderte am Rhein zu sehen, bleibt nicht mehr. Die Regenfälle dürften schnell dafür sorgen, dass die Welt der Hungersteine bald wieder in den Wellen versinkt.

(RP)
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