Erster „begehbarer Film“ Hautnah und mittendrin

Im Filmmuseum ist mit einer VR-Brille der erste deutsche „begehbare Film“ zu sehen. Aufgenommen wurde er mit 32 Kameras.

 Schauspieler Herbert Knaup im Studio in Babelsberg bei der Aufnahme für den begehbaren Film „Ein ganzes Leben“.

Schauspieler Herbert Knaup im Studio in Babelsberg bei der Aufnahme für den begehbaren Film „Ein ganzes Leben“.

Foto: Volucap

Er sitzt in seinem hohen Regiestuhl in Hemd, Weste und Fliege hinter einer altertümlich anmutenden Kamera, gibt Anweisungen und wird dabei immer lauter. Eigentlich gelten seine Worte der jungen Schauspielerin, doch ich stehe gerade zwischen den beiden. Ich kann mich frei bewegen und ganz nah heran an ihn oder sie gehen. Der Regisseur spricht aus einer Position der Macht, das schüchtert ein. Ich will antworten, mich wehren, doch es hätte keinen Zweck – der Regisseur steht gar nicht wirklich vor mir, ich betrachte ihn nur durch eine Virtual-Reality-Brille. Die Szene ist der Anfang eines neuen Exponats im Filmmuseum, Herbert Knaup ist dabei der Regisseur und Franziska Brandmeier die Schauspielerin. 32 Kameras haben die beiden für den „begehbaren Film“ aus fast jeder möglichen Richtung erfasst.

Es sind nur vier Minuten, in denen die UFA durch die Filmgeschichte führt. Das Endergebnis heißt „Ein ganzes Leben“. Technische Tricks und Illusionen des frühen Kinos werden darin dargestellt, bis sich selbst die Anfangsszene als Illusion entpuppt. Maria, so heißt die Figur von Franziska Brandmeier, führt den Zuschauer auf eine Reise durch die Filmgeschichte.

Wobei „Zuschauer“ für einen solchen Film vermutlich das falsche Wort ist. Man ist mittendrin, mehr ein Teil der Handlung als Beobachter. Es geht hier weniger um den Inhalt und viel mehr um die Form. Schlimm ist das nicht. Denn die Form ist faszinierend, sie ist der neueste Stand der Technologie – „Ein ganzes Leben“ ist nicht nur irgendein Film, er ist die erste sogenannte volumetrische Produktion Deutschlands. Zu ihrem 100. Geburtstag kreierte die UFA dieses VR-Erlebnis, zusammen mit dem Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut. Der Film wurde in einem eigens für solche Aufnahmen eröffneten Studio in Babelsberg produziert. Allein schon diese ungewöhnliche Kulisse ist ein äußerst beeindruckender Anblick.

Es ist ein runder Raum, vier Meter hoch, 170 Quadratmeter in der Fläche; komplett weiß ausgekleidet und mit LED-Licht durchflutet. Die 32 Kameras sind auf drei Ebenen verteilt: knapp über dem Boden, in Brusthöhe und an der Decke. Bis zu 1,6 Terabyte pro Minute können hier aufgezeichnet werden. Zur Einordnung: Das sind 1600 Gigabyte, eine Standard-DVD hat eine Kapazität von 4,7 Gigabyte. Die Daten, die im volumetrischen Studio minütlich erzeugt werden, könnten also circa 340 DVDs füllen. Jede Bewegung, jede Falte der Schauspieler kann aufgezeichnet werden. Entsprechend wirken auch die Aufnahmen wesentlich realistischer als virtuell erstellte Bilder. Man ahnt, dass Projekte wie „Ein ganzes Leben“ einen Vorgeschmack auf die Zukunft bieten.

Das glaubt auch Matthias Knop, der stellvertretende Leiter des Filmmuseums. „Auf jeden Fall“ werde VR-Technologie eine Rolle im Kino der Zukunft spielen, sagt er. „Was man hier sieht, sind noch erste Versuche. Aber es ist eine völlig neue Erfahrung“, so Knop. Recht hat er. Sobald man die Brille abnimmt, muss man sich erst einmal an die echte Welt wieder gewöhnen – ähnlich wie nach dem Verlassen des Kinosaals nach einem richtig guten Film. Bei VR setzt dieses Gefühl viel schneller ein, das Erlebnis saugt einen förmlich ein.

Wird Virtual Reality das „normale“ Kino ablösen? Nein, meint Matthias Knop, auch wenn er ein Fan der Technologie ist. Seine These: Das Kino werde zweigleisig fahren. Volumetrische Filme sind nicht für jede Gelegenheit geeignet: Sie sind intensiv, man ist mittendrin und muss sich auf das Erlebnis einlassen. Und genau deswegen bieten sie auch für Museen spannende Aussichten. „Man könnte damit zum Beispiel durch Pyramiden laufen, die man sonst nie besuchen könnte“, sagt Knop. Bis der volumetrische Film für solche Touren reif ist, dauert es wohl noch. Bis dahin kann man die Technologie schon mal im Filmmuseum ausprobieren. „Ein ganzes Leben“ ist der neueste Teil der Sonderausstellung „Fantastische Welten, perfekte Welten – Visuelle Effekte im Film“. Sie stellt mit vielen Modellen und interaktiven Objekten die Entwicklung des Kinos seit 1895 dar und besteht noch bis Ende Juli. Danach werden die Exponate, begehbarer Film inklusive, die Dauerausstellung erweitern.

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