Kaum Nachwuchs Zu wenig Gerichtsvollzieher in NRW

Arnsberg · Die Situation der Gerichtsvollzieher im Land ist dramatisch, klagt der Gerichtsvollzieherbund. Es fehle an Personal, die Arbeitsbelastung sei extrem, Nachwuchs werde kaum ausgebildet. Bis 2017 scheiden 166 Beamte aus dem Dienst aus.

 Gerichtsvollzieher Frank Neuhaus ist in Arnsberg unterwegs — teilweise muss er Schuldner noch am Abend besuchen, um sein Pensum zu bewältigen. Durch massiven Personalmangel und unzureichend umgesetzte Reformen liege die Arbeitsbelastung der Kollegen vielerorts im Grenzbereich, klagt Neuhaus.

Gerichtsvollzieher Frank Neuhaus ist in Arnsberg unterwegs — teilweise muss er Schuldner noch am Abend besuchen, um sein Pensum zu bewältigen. Durch massiven Personalmangel und unzureichend umgesetzte Reformen liege die Arbeitsbelastung der Kollegen vielerorts im Grenzbereich, klagt Neuhaus.

Foto: DGVB

Frank Neuhaus hat es eilig. Der Vorsitzende des Deutschen Gerichtsvollzieherbundes in NRW muss noch einen Brief zur Post bringen, eine Vorpfändungsbenachrichtigung für ein Bank-Konto über eine halbe Million Euro. "Verspätet sich der Brief um einen Tag, räumt der Schuldner möglicherweise sein Konto leer", erklärt Neuhaus. "Dann ist das Geld weg." Manchmal dauert der postalische Weg noch länger - wenn Neuhaus etwa Depot-Auskünfte vom Bundeszentralamt für Steuern abfragen will, kalkuliert er bis zu acht Wochen für die Antwort. Bis dahin müssen die Gläubiger warten. Eine elektronische Abfrage sei initiiert, funktioniere aber nicht. Die Zeit könnten Schuldner nutzen, um Gelder umzuschichten. Aber das ist nur ein Grund, weshalb Neuhaus klagt: "Die Zwangsvollstreckung steht vor dem Kollaps."

Der Beruf des Gerichtsvollziehers sei in NRW so unattraktiv geworden, dass deren Zahl massiv zurückgehe. Heute arbeiten laut Neuhaus im Land 939 Beamte, genauso viele wie im Jahr 1989. Im Jahr 2008 waren es noch 1124. "Das allein spiegelt die Dramatik wider", sagt Neuhaus, der in Arnsberg Schuldner zur Kasse bittet. Die Ursachen für den Missstand seien vielfältig. So sollte die dritte Zwangsvollstreckungsnovelle, die "Reform der Sachaufklärung" vom 1. Januar 2013, die Arbeit der Gerichtsvollzieher erleichtern - zum Beispiel mit elektronischen Abfragen beim Kraftfahrtbundesamt, bei der Deutschen Rentenversicherung und dem Bundeszentralamt für Steuern. Schnell und unbürokratisch sollte dies ablaufen. "Das funktioniert bis heute nur stark reduziert", sagt Neuhaus.

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Die Reform habe nicht zu weniger, sondern zu mehr bürokratischem Aufwand geführt. Mit der Folge, dass viele Gerichtsvollzieher wegen Krankheit ausfallen würden - und die verbliebenen laut Neuhaus bis zu 160 Prozent des normalen Pensums arbeiten. Ein Ende der Spirale sei nicht abzusehen, da es auch an Nachwuchs mangele. "Der Beruf ist so unattraktiv, die laufen alle weg", sagt Neuhaus. Bis 2017 würden 166 Gerichtsvollzieher aus dem Dienst ausscheiden, dazu rechnet der 45-Jährige mit weiteren 100 krankheitsbedingten Ausfällen. Es müsse auch eine Ausbildungsreform her. Gerichtsvollzieher dürften nicht mehr allein aus dem mittleren Justizdienst rekrutiert werden, sondern auch durch einen Studiengang an der Fachhochschule.

Im Justizministerium NRW ist die Problematik bekannt, wird aber weniger dramatisch beurteilt. Derzeit würden landesweit 80 Gerichtsvollzieher fehlen. "Das wirkt sich regional unterschiedlich aus", sagt Sprecher Peter Marchlewski. "In einigen Bezirken sind die Beamten unter-, in anderen überbeschäftigt." Teils sei die Arbeitsbelastung erheblich, etwa in Wuppertal oder Neuss. Eine Krankenstandsprognose für die Zukunft abzugeben, sei aber unseriös. Auch was den Nachwuchs angeht, sieht Marchlewski die Lage gelassen. Tatsächlich sei jahrelang nicht ausgebildet worden. "Aber wir haben genug Bewerber - wir nehmen nur nicht jeden, weil es an geeigneten Kandidaten fehlt." Ähnlich bewertet das Ministerium auch eine Fachhochschulausbildung für Gerichtsvollzieher. Mögliche Absolventen seien mit 21, 22 Jahren einfach zu jung für den Dienst. "Dazu braucht man Fingerspitzengefühl und Durchsetzungsvermögen."

Für Neuhaus sind solche Argumente nur vorgeschoben. In Baden-Württemberg würden Gerichtsvollzieher bereits in jungen Jahren ausgebildet. "Die Kollegen dort sind teilweise schon mit 23 Jahren im Dienst, das funktioniert genauso wie in NRW", sagt Neuhaus. "Und hierzulande liegt das durchschnittliche Eintrittsalter bei 30 Jahren. Früher wurde sogar Frauen die Fähigkeit abgesprochen, den anstrengenden und emotional belastenden Beruf des Gerichtsvollziehers auszuführen. Heute sind bundesweit mehr als 60 Prozent der neuen Gerichtsvollzieher weiblich. Und die machen zumeist einen Superjob." Am 25. September soll mit dem Ministerium ein erstes Gespräch zum Thema Fachhochschulausbildung geführt werden.

Die Auswirkungen der Gerichtsvollzieher-Misere seien deutlich zu spüren, sagt Neuhaus. Zwangsvollstreckungen zögen sich bis zu vier Monate hin, teilweise noch länger. Walburga Gerats, Direktorin des Amtsgerichts Neuss, bestätigt das. Von 18 Gerichtsvollziehern im Jahr 2013 seien heute nur noch zwölf tätig. "Durch den personellen Engpass dauern die Vollstreckungsverfahren deutlich länger", sagt Gerats. Für Neuhaus liegt darin eine große Gefahr. "Zeit genug für Betroffene, ihre finanzielle Situation zu verschleiern", sagt er. "Oder für Gläubiger, sich den Schwarzen Schafen der Inkassobranche zuzuwenden. Das kann sozialpolitisch und wirtschaftlich nicht gewollt sein."

(RP)
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