75 Jahre Möhnekatastrophe Die Nacht des großen Rauschens

Möhnesee/London · Vor 75 Jahren wurden die Talsperren an Möhne, Sorpe und Eder bombardiert. Was bleibt, sind Erinnerungen an ein Geräusch.

 Die Möhnetalsperre (Archiv).

Die Möhnetalsperre (Archiv).

Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Als in der Nacht auf den 17. Mai 1943, heute vor 75 Jahren, im Zweiten Weltkrieg die Möhnetalsperre bombardiert wurde, war Karl-Heinz Wilmes fast fünf Jahre alt. "Das erste Flugzeug flog so tief, dass ich den Piloten in seiner Kanzel sehen konnte", erinnert er sich. "Wir sind geweckt worden durch den Motorenlärm der Flieger und die Schüsse der Flak. Wir sind ab in den Keller, wie das so war bei Luftalarm."

Und doch war dieses Mal vieles anders. Aus dem Kellerfenster seines Elternhauses sah Wilmes die tieffliegenden, britischen Lancaster-Bomber. "Dann gab es ein Ballern, irgendwann war Stille. Dann hörte man ein riesendonnerndes Rauschen. Da hat meine Oma gesagt: Jetzt haben sie die Möhne getroffen."

Und so war es. Dem Angriff der britischen Bomber auf diese Talsperre und weitere Staudämme in Nordrhein-Westfalen und Hessen ging eine akribische Planung voraus.

Wie ein Stein, den man über den See flitschen lässt

Die Aktion trug den Namen "Operation Chastise" - Operation Züchtigung. Davor gab es Monate des Probierens, Entwickelns, Planens. Monate der Geheimhaltung, des Trainings und der Fokussierung auf diese eine Nacht, in der Staumauern etwa an Möhne, Sorpe und Eder zum Bersten gebracht werden sollten. Die britischen Piloten übten, mit hohem Tempo knapp über dem Wasser zu fliegen und Bomben präzise abzuwerfen. 2000 Flugstunden und 2500 Test-Bomben zählte die britische Armee. Um Ziele zu treffen, die als sehr wichtig galten für die Strom- und Wasserversorgung der deutschen Rüstungsindustrie. Und die einer speziellen Waffe bedurften.

133 Männer aus Scampton in Großbritannien machten sich in der Nacht auf den 17. Mai 1943 auf den Weg. An Bord: die unter hohen Sicherheitsvorkehrungen entwickelten "bouncing bombs", Hüpfbomben. Wie ein Stein, den man über den See flitschen lässt, sollten die springenden Rollbomben über das aufgestaute Wasser hüpfen, dann untergehen und in rund zehn Metern Tiefe explodieren.

Erst die fünfte abgeworfene Bombe, so wird berichtet, tat genau das an der Möhnetalsperre. "Ich traute meinen Augen kaum. Da war eine etwa 100 Meter breite Lücke in der Mauer, und das Wasser strömte ins Ruhrtal in Richtung des Industriezentrums des deutschen Dritten Reiches", erinnert sich Kommandeur Guy Gibson. "Es war jetzt ganz ruhig, bis auf das Rauschen des Wassers."

Wassermassen strömten ins Tal

75 Jahre später eint die Zeitzeugen vor allem die Erinnerung an dieses ungewöhnliche Geräusch: das Rauschen des ausströmenden Wassers. Autor Helmuth Euler war neun Jahre alt und lebte in Werl, etwa 20 Minuten entfernt von der Möhnetalsperre, als das, wie er sagt, "gewaltige Rauschen" das Ruhrtal erfüllte. Später forschte er in Archiven zur Möhnekatastrophe, schrieb viele Bücher darüber. "Die Mauer ist nicht etwa zerbröselt", ist Euler sich sicher, "sondern in einem Block rausgebrochen".

Millionen Kubikmeter Wasser strömten ins Ruhr- und Möhnetal. Die Fluten rissen mit, was ihnen im Weg stand. Durch den Angriff und seine Folgen starben mehr als 1300 Menschen. Die genaue Opferangabe schwankt, liegt teils deutlich darüber. Etwa, weil einige Menschen vermisst blieben. Außerdem waren unter den Toten auch viele Zwangsarbeiter. Ein paar Kilometer von der Möhnesperre entfernt, in Arnsberg-Neheim, richtete die Flutwelle ihren wohl größten Schaden an. Allein dort starben etwa 700 Menschen - vor allem Frauen aus Osteuropa. Sie waren als Zwangsarbeiterinnen in der Rüstungsindustrie beschäftigt, wohnten in einem Arbeitslager in Baracken und konnten nicht mehr rechtzeitig fliehen. Ihre letzte Ruhestätte ist ein Massengrab.

Der britische "Chronicle" spricht einen Tag nach der Bombardierung von einem "Major Victory" und nennt den zerstörten Damm das "großartigste Luftbild des Krieges". Auf deutscher Seite räumte man in der "Westfälischen Landeszeitung" ein, dass der Angriff eine "große Anzahl Menschenleben" gekostet und "teils erhebliche Schäden" verursacht habe. Der Text ist bebildert mit Jungen, die Keller auspumpen, und Frauen, die mit Reinigungsarbeiten beschäftigt sind. "Das Möhne- und Ruhrtal zeigte nach dem Britenangriff unbeugsamen Widerstandswillen", heißt es.

"No. 617 Squadron" erreichte Legendenstatus

1943 brauchte Großbritannien Erfolgsmeldungen. Und dafür war die "Operation Chastise" wie gemacht. Tapfere Piloten, Flugkunst, die Ingenieurleistung der Bombenbauer - und zwei zerstörte Talsperren. Allerdings kamen bald Zweifel am militärischen Erfolg auf. Auch, weil Deutschland nicht so stark getroffen war, wie von britischer Seite erhofft. "Man wollte die Rüstungs- und Waffenindustrie schwächen, weil Wasser gebraucht wird für die Stahlerzeugung", erzählt Arnsbergs Stadtarchivar Michael Gosmann. "Aber die Mauer war schnell wieder aufgebaut." Innerhalb von fünf Monaten war der Möhnedamm wieder funktionstüchtig. Die meisten Steine im 40 Meter hohen Bau halten bis heute das Wasser zurück.

In Deutschland interessiert das Ereignis eher regional. Wer im Umland der Sorpe, Eder und Möhne aufwächst, dürfte früher oder später davon erfahren. Aber verglichen mit der Bombardierung Hamburgs oder den Luftangriffen auf Dresden spielt der Angriff auf die Talsperren in der Nachkriegserinnerung eine untergeordnete Rolle.

Anders in Großbritannien: "No. 617 Squadron" erreichte Legendenstatus. "The dambusters", die Dammbrecher, ist noch heute ein Begriff. Ein Film wurde 1955 gedreht, Bücher geschrieben. George Johnson, der letzte lebende "dambuster", etwa trat 2017 mit weit über 90 Jahren im Buckingham Palast zur Ordensverleihung vor die Queen.

„Ich könnte da keine Nacht ruhig schlafen"

In dem überschwemmten Gebiet lebte damals Karl-Heinz Wilmes. Der Angriff hat den 79-Jährigen ein Leben lang begleitet. Der langjährige Ortsvorsteher von Möhnesee-Günne hat viel nachgeforscht. "Bei Gedenkveranstaltungen habe ich immer an alle Toten erinnert, auch die Flieger, die Zwangs- und Fremdarbeiter, und natürlich besonders die Leute aus Günne."

Wenn er aus dem Fenster seines Arbeitszimmers guckt, sieht er - etwa einen Kilometer entfernt - die Möhnetalsperre. Vor fünf Jahren, als sich die Bombennacht zum 70. Mal jährte, hatte eine private Initiative dort Sportflieger organisiert, die übers Wasser flogen und Blumengestecke abwarfen. "Die Mauer, dazu Flugzeuge, da hat sich bei mir im Bauch alles verkrampft", erzählt Wilmes.

So sei es auch anderen Zeitzeugen ergangen. Noch heute haben viele das Rauschen des Wassers im Ohr. Noch heute kann sich Karl-Heinz Wilmes nicht vorstellen, je ins Tal zu ziehen, durch das sich damals die Flut wälzte. "Im unteren Dorf hätte ich nie wohnen können. Ich könnte da keine Nacht ruhig schlafen."

(dpa)
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