Aufräumarbeiten nach Tornado in Viersen „Man ist so hilflos“

Viersen · In Viersen-Boisheim liegen nahezu in jeder Straße Dachziegel und umgestürzte Bäume auf den Wegen und in den Gärten. Der Tornado hat schwere Schäden hinterlassen. Die Nachbarn helfen sich gegenseitig.

Tornado in Viersen: die Schäden am Tag danach
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Tornado über Viersen - die Schäden am Tag danach

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Foto: dpa/Marius Becker

„Acht Minuten Unwetter und das Ergebnis ist verheerend“, sagt Edelgard Materna. Sie steht am Donnerstagvormittag mit ihrem Handy in der Hand vor ihrem Haus in Viersen-Boisheim und macht Fotos von kaputten Dachziegeln. Erst jetzt wird klar, was der Tornado am Mittwochabend alles zerstört hat. Um kurz vor 18 Uhr zog die Windhose über Boisheim und weitere Viersener Ortsteile hinweg. Zwei Menschen wurden schwer verletzt, ein 23-Jähriger wurde von einem Ast getroffen und ein Feuerwehrmann wurde im Einsatz durch einen Stromschlag verletzt. Angesichts der Schäden in Boisheim ist es fast ein Wunder, dass nicht mehr Menschen durch umherfliegende Dachziegel verletzt wurden. Nur einige Autos haben Dellen so groß wie Schindeln.

Zwei Fenster in der ersten Etage des Hauses sind zersplittert. An der Hauswand rankte Wein, die Ranken hängen schlaff herunter. Auf dem Dach fehlt die Hälfte der Ziegel. Die liegen zerschlagen im Vorgarten. Zwischen Rhododendronblüten hat sich noch etwas Dämmwolle verfangen. Im Vorgarten liegt außerdem eine gelbe Mülltonne. „Ich weiß gar nicht, wem die gehört“, sagt Edelgard Materna. In einem der Nachbargärten hängt ein ganzer Wohnwagen in einer Hecke. Die Familie war erst zweimal damit im Urlaub, erzählt die Viersenerin.

Familie Materna sind nicht die einzigen, die am Donnerstagmorgen erstmal Dachschindeln wegräumen müssen. In der gesamten Nachbarschaft herrscht die Geräuschkulisse emsigen Aufräumens. Die Kettensägen knattern im Chor. Dachdecker bahnen sich mit ihren Transportern vorsichtig einen Weg durch die schmalen Wohnstraßen. Links und rechts auf den Bürgersteigen liegen kleine Berge von zerschlagenen Dachschindeln. Und vor fast jedem Haus parkt schon ein Transporter mit Firmenlogos von Dachdeckerfirmen. Menschen stehen vor ihren Häusern und sprechen über den Tornado.

Im Alt-Breyeller-Weg stehen auf fast jedem Haus ein oder zwei Handwerker. Die Straße befindet sich direkt am Ortsrand, hinter den Gärten beginnt das Feld. Die Häuser am Feld hat es besonders stark getroffen. Bei einigen Gebäuden kann man durch den Dachstuhl durchblicken. Rund 50 Häuser sind beschädigt, aber keines ist vom Zusammensturz bedroht, bestätigt ein Statiker des Technischen Hilfswerks noch am Abend. Niemand musste die Nacht in einer Notunterkunft verbringen. Die Turnhalle der Schule hätte man als Notunterkunft hergerichtet. Doch das brauchte man nicht, sagt Viersens Stadtsprecher Frank Schliffke. Die Boisheimer hätten sich untereinander geholfen. Hier wird nachbarschaftliche Hilfe noch ganz groß geschrieben. Und so können die Schulkinder am Donnerstag ihre Turnhalle ganz normal für den Turnunterricht benutzen.

Auch Maternas haben im eigenen Haus geschlafen. „Unser Schlafzimmer ist im Erdgeschoss, das ging“, sagt Edelgard Materna. Vom Feld her kam der Tornado. Materna zeigt auf ein Loch in der Hecke. Sie stand gerade in der Küche, als der Tornado heran fegte. Sie hat nur noch schnell die Jalousien heruntergelassen, erzählt sie. Seit 50 Jahren leben sie und ihr Mann in diesem Haus. Es sind Siedlungshäuser, die alle ähnlich aussehen – rote Backsteinklinker und dunkle Dachschindeln.

Das Ehepaar wartet darauf, dass der Gutachter der Versicherung kommt. Erst danach können sie alles wegräumen. Sie macht sich Sorgen, dass sie einen Teil des Schadens am Dach selbst bezahlen müssen. „Für uns als Rentner ist das nicht so einfach.“

Im Garten hinter dem Haus der Maternas sieht es noch schlimmer aus als im Vorgarten. Eine große Tanne des Nachbarn liegt mitten im Garten, sie hat knapp das Gartenhaus verfehlt. Das steht noch. Doch sonst ist fast nichts mehr an Ort und Stelle. Mitten auf der Wiese liegt ein grünes Planschbecken aus Plastik in Form einer Muschel. Auch da weiß sie nicht, wem es gehört.

„Auf der Terrasse wollten wir unsere Rente genießen, jetzt ist alles kaputt“, sagt Edelgard Materna. Die Terrassen-Überdachung fehlt komplett, den Grill hat der Sturm verschoben, überall liegen zerschlagene Blumenschalen. Materna hatte eine Schale mit Geranien noch vor dem Hagel in Sicherheit bringen wollen und sie auf die überdachte Terrasse gestellt. Die Schale war für das Grab ihrer Mutter bestimmt. Bald ist Fronleichnam. Den Boisheimer Friedhof hat es besonders stark getroffen, bestätigt der Sprecher der Stadt Viersen. „Zwei Bäume stehen noch. Alles, was über fünf Meter hoch gewachsen war, liegt flach.“ Der Friedhof ist derzeit gesperrt, auch dort arbeiten Männer mit Kettensägen, um die Gräber wieder zugänglich zu machen.

Tornado im Kreis Viersen: Drohne zeigt Verwüstungen aus der Luft
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So sehen die Verwüstungen durch den Tornado aus der Luft aus

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Foto: Marco Bayer

Rund um Boisheim sind am Donnerstag noch nicht alle Straßen wieder frei. Die Landstraßen nach Brüggen, Dilkrath und Schaag sind noch gesperrt, meldet der Kreis Viersen. Auch die Kreisstraße 4 ist noch nicht wieder zu befahren, weil Bäume auf die Fahrbahn stürzten. Immerhin auf der Bahnstrecke und auf der Autobahn rollt alles wieder.

Astrid Schmidt ist gekommen, um ihrer Tante zu helfen. Sie wohnt ein paar Häuser weiter im Alt-Breyeller-Weg. Schmidt hatte Glück im Unglück. Ihr Dach wurde vor kurzem neu gedeckt. Der Dachdecker hat jede Schindel einzeln festgenagelt. Deswegen hat es dem Tornado standgehalten.

In der Auffahrt schneiden ihr Mann und ein Nachbar gerade mit einer Kreissäge eine umgestürzte Tanne klein. Der Baum stand im Garten der Nachbarn. Stück für Stück fallen die Zweige und Äste, an denen das Tannengrün gerade frisch ausgetrieben hat, zu Boden. Die 90-jährige Nachbarin, auf deren Grundstück die Tanne stand, versucht zu helfen. In der Haustür der Schmidts ist es ein großes Loch. „Woher das kommt, ich habe keine Ahnung!“, sagt Astrid Schmidt, als sie von ihrer Tante zurück ist. Auch der Gartengnom vor der Tür hat eine Kopfverletzung.

Bei Familie Bohnen im Haus gegenüber klingelt gerade der Gutachter der Versicherung. Bohnens waren nicht zu Hause, als der Tornado kam. Ihr Sohn rief sie an: „Kommt schnell nach Hause, es ist etwas ganz Schlimmes passiert“, sagt Monika Bohnen. Zuhause ist das Dach stark beschädigt. Das Technische Hilfswerk hat noch bis weit in die frühen Morgenstunden offene Dächer notdürftig mit Folie abgedeckt, auch das Dach der Bohnens wurde so vor Regen geschützt. Im Garten sieht nichts mehr aus wie vorher. Das Gartenhaus ist zerlegt, das hat der Sturm abgetragen. Nur das Dach lehnt wie hingestellt an der Hecke. „Mein Sohn hat den Tornado kommen sehen. Das ganze Haus hat gebebt. Er hat sich im Badezimmer verkrochen. Man ist doch so hilflos“, sagt Bohnen. „So etwas kennt man doch sonst nur aus Amerika.“

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