Wie viel Durchgreifen ist in der Erziehung erlaubt? Die Kumpel-Eltern

Düsseldorf · Moderne Erziehungsratgeber empfehlen Eltern, dass sie mit ihren Kindern kooperieren sollten. Von Strafen ist dagegen nicht die Rede. Aber gehören sie zum Erziehen dazu? Bei dieser Frage treffen Weltbilder aufeinander.

 Eltern wollen oft beste Freunde ihrer Kinder sein.

Eltern wollen oft beste Freunde ihrer Kinder sein.

Foto: imago stock&people

Lukas ist zehn und der Coolste in seiner Klasse. Findet er. Den Unterricht schwänzt er häufig. Lieber sitzt er im Park und raucht, bei seinen Mitschülern prahlt er mit Dingen, die ihm seine Eltern kaufen. Der schwedische Psychiater David Eberhard berichtet von diesem Jungen, aber nicht, weil das Kind besonders auffällig wäre – sondern dessen Eltern. Als die Schule nämlich mahnend an die Eltern herantritt, unternehmen die: nichts. Keine Standpauke, keine Abstriche beim Taschengeld, kein Hausarrest oder was Eltern früher so eingefallen ist, um Kindern Grenzen zu setzen. Aus Angst, dass Sanktionen alles nur noch schlimmer machen und sie das Vertrauen ihres Kindes verspielen, lassen Lukas’ Eltern ihren Sohn gewähren.

Wie viel Strafe darf sein? An dieser Frage entzündet sich nicht nur eine Diskussion über angemessenen Umgang mit Ungezogenheit. Sie scheint auch bestens dafür geeignet, über liberale Erziehungsmethoden generell zu streiten. Denn entwickeln sich Kinder nicht zu Rotzlöffeln, wenn es Eltern an Durchsetzungskraft oder Willen fehlt?

Passende Geschichten hat jeder parat von Schreihälsen in Warteschlangen, von Kindern, die in Restaurants über Tische und Bänke gehen und bei den Erwachsenen auf nichts als Nachsicht stoßen. Da liegt es nahe, schlechtes Betragen auch später im Leben als Folge eines zu lässigen Erziehungsstils zu sehen. Darum warnen Autoren wie David Eberhard in seinem jüngsten Buch „Kinder an der Macht“, Erziehung dürfe nicht zum Schimpfwort werden, und Eltern, die streng durchgriffen, sollten dafür nicht angefeindet werden. Inzwischen dominiere die Ansicht, dass Eltern mit ihren Kindern unter allen Umständen kooperieren müssen, damit die Kleinen unverschüchtert zu Ich-starken, kreativen Persönlichkeiten heranwachsen könnten. Zu Selbstdenkern, die den Herausforderungen in der digitalen Gesellschaft gewachsen sind. Misstöne, Ärger, Strafen erscheinen in diesem Konzept als das Versagen kommunikativ rückständiger Eltern.

In Erziehungsfragen scheint das Pendel zwischen Lob der Empathie und Lob der Disziplin immer wieder hin und her zu schlagen. Man kann das alles abtun und sein Heil in der goldenen Mitte suchen. Doch stecken hinter den jeweiligen Erziehungskonzepten unterschiedliche Weltbilder.

Der Schwede David Eberhard etwa sieht einen Grund für die „extrem kinderfixierte Elternkultur“ darin, dass Menschen immer später Eltern werden und weniger Kinder bekommen. Sie setzen also „alles auf eine Karte“, was Ängste erzeuge. Verunsicherte Eltern griffen nicht durch, weil sie nichts falsch machen und ihren Kindern gefallen wollten. Doch beherrsche der Nachwuchs am Ende das komplette Familiengeschehen, diktiere, was gegessen werde (Nudeln mit Sauce) und wohin die Urlaubsreise gehe (wo Kinder den ganzen Tag Spaß haben können).

Kritiker wie Eberhard glauben, dass Skepsis gegenüber Autoritäten dazu führt, dass Eltern Disziplin als Zumutung betrachten. Statt zu profitieren von den Erziehungserfahrungen älterer Generationen, zu deren Repertoire eben auch Strafen gehörten, wollten moderne Eltern die Freunde ihrer Kinder sein.

Darum stellten sie zu wenig Anforderungen, verschonten ihre Kinder von Pflichten wie Hilfe im Haushalt, räumten so viel Konfliktpotenzial wie möglich aus dem Weg. „Da muss man sich nicht wundern, dass sich Erziehung heute in einen unfairen Kampf verwandelt hat, bei dem es darum geht, wer der coolste Papa ist, wer das kumpelhafteste Verhältnis zu seinem Kind hat. Sich selbst als Vater oder als Mutter zu definieren, würde ja heißen, dass man sich wie ein Relikt aus der Vergangenheit verhält. In der heutigen Elternschaft geht es darum, dem Kind auf Augenhöhe zu begegnen. Kurz gesagt: Man muss sich wie ein Kind verhalten“, schreibt Eberhard.

Allerdings gehen Vertreter des Strafens nach Maß davon aus, dass Eltern und Kinder zwangsläufig in Machtkämpfe geraten, dass es also eigentlich nur um die Wahl der Waffen geht. Vertreter liberaler Methoden setzen dagegen früher an, versuchen zu vermitteln, wie Eltern gar nicht erst in ein Kräftemessen geraten. Die einst als „Super Nanny“ bekannt gewordene Katharina Saalfrank etwa hat gerade ein Buch geschrieben mit dem Titel „Kindheit ohne Strafen – neue wertschätzende Wege für Eltern, die es anders machen wollen“. Darin zeigt sie an vielen Beispielen, wa­rum Kinder etwa in Wutausbrüche geraten oder sich komplett verweigern – und wie Eltern diese Zeichen lesen können, ohne in eine Spirale des Dagegenhaltens zu geraten. Saalfrank betont, dass Kinder nicht Tyrannen werden, wenn sie zu wenig gestraft werden, sondern umgekehrt, wenn sie nicht lernen, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen, und nicht spüren, bedingungslos geliebt zu sein.

Gerade die Untergangsszenarien von Ärzten wie Michael Winterhoff oder Martina Leibovici-Mühlberger, die ein Buch mit dem beunruhigenden Titel „Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden. Warum wir nicht auf die nächste Generation zählen können“ verfasst hat, vertieften nur die Unsicherheit von Eltern. Man predigt ihnen ja ständig, dass sich alles, was sie erzieherisch versuchen, später rächen kann. Wie soll man da gelassen den eigenen Weg finden?

Doch gerade darin treffen sich die Experten der gegensätzlichen Lager auch wieder. Denn auch Mahner wie Eberhard schreiben, dass Kinder robuster ihre Persönlichkeit entfalten, als viele Eltern denken, dass sie also gelassener an ihre Erziehungsaufgabe herangehen können. Heranwachsen unterliegt vielen Einflüssen – von Eltern, Freunden, Lehrern, Medien. Wenn eine Generation von respektlosen Ichlingen heranwächst, ist das eine Frage der Erziehung – und der Werte der gesamten Gesellschaft.

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