Ein Lob auf die Tanten Stille Stützen der Familie

Düsseldorf · Die unverheiratete Tante galt lange als Anhängsel der Familie. Dabei sorgte sie schon immer für eine gute Balance im Miteinander der Generationen. Heute sind Bindungen auch in der Familie freiwilliger. Die Tante hat das von ihrem betulichen Image befreit.

  Die Hortensie drückt Dankbarkeit aus - auch für das Tun der Tanten.

Die Hortensie drückt Dankbarkeit aus - auch für das Tun der Tanten.

Foto: dpa-tmn/Andrea Warnecke

Früher gab es sie in allen Familien, die Frauen, die dazugehörten, aber nicht wie die Mütter. Die bei den Familienfeiern schon mal die Sahne schlugen, während sich alle noch begrüßten, und später das Geschirr abwuschen, ungefragt. Die nach Kölnisch Wasser rochen, altmodische Süßigkeiten verschenkten, die Kinder eigentlich nicht mochten, aber in die Packung mit den Minztalern oder Geleefrüchten ein Scheinchen schoben. Die bei zotigen Witzen empört taten, aber die besten Anekdoten von früher kannten. Die Jugendsprache nicht verstanden, aber die ersten Rucksack-Reisen der Nichten und Neffen finanzierten – und später wirklich wissen wollten, wie es war.

Die unverheirateten Tanten waren das Anhängsel der Sippe und doch unverzichtbar für die empfindliche Statik des Familiengebildes. Denn die Tante war nicht so tief verstrickt ins Netz aus gegenseitigen Erwartung und Enttäuschung zwischen Eltern und Kind. Die Tante lebte ihr eigenes Leben und war doch immer da, wenn der Rest sie brauchte. Sie war unabhängig, eigensinnig, in manchen Dingen ein wenig schrullig, sie lebte ja ohne Korrektiv. Aber sie hatte eine starke innere Haltung, bestens getarnte Selbstironie, Großzügigkeit. Arme Familien ohne Tante.

„Tanten sind auf dem Schachbrett der Familie der Springer“, sagt Ursula März, „sie gehören irgendwie dazu, haben es aber nicht ins Innere des Familiensystems geschafft und sich kein eigenes aufgebaut.“ Die Autorin hat in dem Roman „Tante Martl“ leicht fiktionalisiert den Lebensweg ihrer eigenen Tante beschrieben. Eine Nachkriegs-Frauenbiografie, die behutsam und anerkennend von einem emanzipierten und zugleich unerfüllten Leben erzählt.

Martl ist die Jüngste von drei Schwestern, das ungeliebte Mädchen, das eigentlich ein Junge hatte werden sollen. Sie macht ein hervorragendes Abitur, doch mehr als die Ausbildung zur Volksschullehrerin ist für sie nicht vorgesehen. Sie nutzt auch diesen Bildungsweg, um ihren Horizont zu weiten, macht den Führerschein, unternimmt größere Reisen. Eine gebildete Frau, die sich bei ihren Schülern durchzusetzen weiß. Doch im Kreis ihrer Familie ist sie die Unscheinbare, Dienende, springt auf, wenn bei Tisch etwas fehlt, kleidete sich teuer, aber unauffällig, bleibt im Elternhaus wohnen. Ein Leben lang. Als die Eltern hinfällig werden, übernimmt sie selbstverständlich die Pflege. Die Schwestern haben ja geheiratet, Kinder bekommen, ein eigenes Leben aufgebaut. Martl ist übrig. Und fügt sich in die Rolle der Tante.

Es gibt nur wenige empirische Studien über die Tante. Vor allem im deutschsprachigen Raum konzentriert sich die Familienforschung eher auf die Beziehung zwischen Eltern, Großeltern, Enkelkindern. Auf die Kernfamilie also.

Im englischen Sprachraum gibt es immerhin Begriffe für das, was Tanten im Beziehungsgeflecht der erweiterten Familie emotional und praktisch leisten. Man spricht dort vom „aunting“ ähnlich dem „parenting“, also von einer Tantenschaft, ähnlich der Elternschaft. Gemeint ist damit, dass die Tante Funktionen übernimmt, wie Familientraditionen und Werte zu bewahren und weiterzugeben oder als Ratgeberinnen und emotionaler Puffer zwischen Kindern und Eltern einzuspringen. Die Tante kann sogar Ersatzmutter werden, etwa wenn die leibliche Mutter stirbt oder nach einer Scheidung fehlt.

 „Die Tante ist Teil der Familie und nimmt dennoch Distanz zur Kernfamilie ein“ , sagt Nina Jakoby, Privatdozentin an der Universität Zürich. So könne die Tante etwa bei schwierigen Eltern-Kind-Beziehungen wie eine Mediatorin wirken. Insbesondere kinderlose, berufstätige Frauen verkörpern oft auch ein anderes Rollenmodell für ihre Nichten als die Mutter.

Früher haftete der Tante oft etwas Defizitäres an. Während der unverheiratete Mann der Junggeselle war, der sich melancholisch, heroisch selbst genügte, hatte die Tante etwas nicht geschafft. Sie hatte keinen Mann gefunden. Dabei gab es natürlich zu allen Zeiten Frauen, die gar nicht an der Seite eines Mannes leben wollten, die sich selbtsbewusst für Berufstätigkeit und Unabhängigkeit entschieden. Wahrgenommen wurden sie oft anders. „Der unverheiratete Mensch wird mit Einsamkeit konnotiert, das ist furchterregend und beschämend, hinzu kam die christliche Vorstellung, Kinder in die Welt zu setzen, sei der größte Lebenssinn“, sagt Ursula März. Dass es auch lustvoll sein könne, seine Lebensenergie anders zu verwenden, wurde lange nicht gesehen.

Heute leben 17,3 Millionen Menschen in Deutschland in einem Einpersonenhaushalt, das ist jeder Fünfte. Ob freiwillig oder nicht, ein Leben ohne eigene Familie steht nicht mehr automatisch für emotionale Entbehrungen. Tanten sind heute in der Regel selbstbewusste Frauen mit eigenen Lebenszielen, die selbst entscheiden, wie sehr sie sich in familiäre Zusammenhänge einbinden, etwa als Patinnen oder feste Bezugsperson für Geschwister und deren Kinder. Bezeichnenderweise lassen sich moderne Tante oft nicht mehr Tante nennen. Sie werden beim Vornamen gerufen, sind wie Freundinnen, nur näher, länger vertraut, womöglich auch verlässlicher als andere Bekannte. Sie sind ja Teil der Familie.

Der Wandel des Bildes von der Tante ist Teil des familiären Wandels insgesamt. „Der verpflichtende Charakter von Verwandtschaftsbeziehungen nimmt eher ab, der freundschaftliche zu“, sagt Nina Jakoby. Sie verwendet dafür den Begriff der Wahlverwandtschaft, was nicht auf Goethe verweisen soll, sondern darauf, dass es zwar nach wie vor besondere Solidarität innerhalb von Familien gibt. Das fußt vor allem darauf, dass man Erfahrungen und Erinnerungen teilt. Doch können Menschen heute freier bestimmen, wie intensiv sie die Kontakte zur Familie pflegen. Sie wählen, wie stark ihre Familienbande sind.

Auch die Enttabuisierung alternativer Lebensformen trägt dazu bei, dass der Einzelne heute flexibler bestimmt, was ihm Verwandtschaft bedeutet. „Kontakt zur Tante ist heute weniger verpflichtend“, sagt Jakoby, „das nimmt der Tante das altbackene Image, sie ist eher die Freundin, mit der man freiwillig Zeit verbringt – oder eben nicht.“ Eine unverheiratete Tante muss heute womöglich aktiver sein, um dazu zu gehören. Dafür wird sie weniger als Anhängsel betrachtet. Sie lebt ein alternatives Lebensmodell. Wie gut das glückt, zeigt sich daran, wie gut sie sich darin entfalten kann. Nicht mehr der familiäre Status ist der Maßstab für geglücktes Leben, sondern das Ausleben der eigenen Persönlichkeit. Tanten begleiten die Entwicklung der Familie und irgendwann sind sie selber alt. „Dann kehren sich die Verhältnisse um, dann gehören Nichten und Neffen zum Unterstützungsnetzwerk älterer, kinderloser Frauen“, sagt Familienforscherin Jakoby. Nichten und Neffen engagierten sich allerdings meist nicht direkt in der Pflege, sondern in der Organisation. „Diese Beziehung wird in Zukunft sicher noch wichtiger werden.“

Bindungen, auch in der Familie, sind heute nicht mehr selbstverständlich. Das bedeutet einerseits Verunsicherung, aber auch höhere Wertschätzung für Bindungen, die Menschen ohne Zwänge eingehen. Der Tante verschafft diese Freiheit das Recht, ihre Rolle selbst zu bestimmen. Die stillen Stützen der Familie haben sich vom zwangsläufigen Tantesein zur selbstbestimmten Tantenschaft emanzipiert. Welches Glück, wenn eine Tante sich für Familie entscheidet!

(dok)
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