Maurizio Pollini erforscht Beethoven

Der italienische Meisterpianist legt bei der Deutschen Grammophon seine neue Gesamtaufnahme aller Klaviersonaten vor.

Die letzten Klaviersonaten von Beethoven gehören zum Anspruchsvollsten, Rätselhaftesten und Tiefgründigsten, was es für Pianisten zu interpretieren gibt. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Hier kann man zum Schwätzer werden, aber auch zum Philosophen. Technische Meisterschaft reicht bei weitem nicht, um diesen formal komplexen, sperrigen, avantgardistischen Sonaten beizukommen.

Maurizio Pollini hat sich gleich am Anfang seiner Karriere damit beschäftigt und sie für die Deutsche Grammophon in den Jahren 1976 und 1977 auf CD aufgenommen. Nun ist mit den 2014 eingespielten Sonaten op. 31 und 49 seine Gesamtaufnahme von Beethoven Klaviersonaten vollendet. Auf dem Cover des Schubers mit acht CDs ist der Pianist zu sehen, wie er konzentriert in seine Noten blickt. Kein Virtuose wird hier inszeniert, sondern ein Forscher, ein fanatischer Wahrheitssucher.

Das Bild deckt sich mit den Höreindrücken. Pollinis technische Meisterschaft ist nur ein Vehikel, um Erkenntnisse zu transportieren. Der 1942 in Mailand geborene Italiener hat immer die Gesamtarchitektur des Werkes im Auge. Manchmal übertreibt er, um Strukturen aufzuzeigen oder auch mal mit einer Begleitfigur zu verstören. Sein Spiel ist nicht immer ausgewogen, aber stets aufwühlend und hochemotional. Pollini bringt den Hörer gerade durch seine Expressivität zum Nachdenken. Sein gestalterischer Wille ist in jedem Takt spürbar.

Diese Ernsthaftigkeit prägt auch das Leben von Maurizio Pollini. Nachdem er 1960 im Alter von 18 Jahren den renommierten Chopin-Klavierwettbewerb gewann, reiste er nicht als pianistisches Jahrhunderttalent durchs Land, sondern begann ein Physikstudium, beschäftigte sich mit Literatur und Philosophie und nahm wieder Klavierunterricht bei seinem berühmten Landsmann Arturo Benedetti Michelangeli. Er engagierte sich politisch gegen südamerikanische Diktaturen und den Vietnamkrieg, gab gemeinsam mit seinen Freunden Claudio Abbado und Luigi Nono Konzerte in Fabrikhallen und setzte sich sehr für zeitgenössische Musik ein.

Zur Musik Ludwig van Beethovens hatte Maurizio Pollini immer ein besonderes Verhältnis: "Beethoven hat immer das Neue gewagt, sein ganzes Leben lang. Das Voranschreiten war für ihn der Zweck aller Kunst. Kein anderer Komponist hat in seiner Schaffenszeit eine derartig grandiose Entwicklung durchgemacht wie er", konstatierte der Pianist vor einigen Jahren in einem Interview.

Dabei zeigt Pollini bereits in den frühen, Joseph Haydn gewidmeten Sonaten op. 2 aus dem Jahr 1795, wie viel Revolutionäres hier angelegt ist. Der erzählerische Bogen, den er im zarten Adagio der C-Dur-Sonate spannt, kulminiert in einem großen Drama. Das abschließende Allegro wirkt in seiner zugespitzten Virtuosität fast schon surreal. Gerade mit seiner Rechten sorgt Pollini immer für eine klare Phrasierung. Deutlichkeit ist ihm wichtiger als Klangfarbe oder ein Superpianissimo. Nur sein lautes Atmen und Summen, das glücklicherweise in den anderen Aufnahmen in den Hintergrund rückt, ist gewöhnungsbedürftig.

In der "Pathétique" auf der dritten CD findet Pollini eine ideale Balance zwischen Freiheit und Strenge. Seine "Appassionata" strotzt nur so vor Energie gerade in den Tonrepetitionen. Im Adagio sostenuto der "Hammerklaviersonate" op. 106 entwickelt er deren gewaltige Architektur aus einem verinnerlichten Gestus. Die Polyphonie des streng gestalteten Fugenfinales wird durch die gleiche Intensität der rechten und linken Hand eindrucksvoll erlebbar.

Es ist besonders Pollinis rhythmische Genauigkeit, die der letzten Sonate op. 111 auch im Pianissimo Spannung verleiht. Die Sechzehntel im Kopfsatz sind kein Laufwerk, sondern gleichen existenziellen Erschütterungen. Bei Maurizio Pollinis letzter Aufnahme aus dem Jahr 2014, der fünften CD der Gesamtaufnahme, merkt man dann doch leichte Abnutzungserscheinungen. Die Triller verlieren an Spannkraft, die wiederkehrende Bassfigur im Adagio von op. 31/2 springt nicht gleich an. Auch die Läufe im Kopfsatz von op. 31/3 haken ein bisschen. Und das extrem schnell genommene Presto con fuoco wirkt gehetzt.

Aber auch hier ist Maurizio Pollini die künstlerische Aussage, der Furor wichtiger als oberflächliche Brillanz. In den beiden zweisätzigen Sonaten op. 49 beispielsweise überrascht der Italiener dann noch mit Charme, Heiterkeit und Natürlichkeit. Verbissen ist hier gar nichts mehr. Die Schlachten sind geschlagen. Ein Lächeln liegt über der Interpretation.

(RP)
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