Düsseldorf Flucht in der Zeitmaschine

Düsseldorf · Zeitreisen sind auffallend häufig das Thema neuer Kino- und TV-Produktionen. Sie spiegeln den Wunsch nach rascher Veränderung.

Das Kino war immer schon das Zugangstor zu einer Welt jenseits unserer Raumgrenzen. Die Wände des Saals schließen den Kinoraum ab gegen den Ort, von dem aus man ihn betreten hat. Und die Leinwand funktioniert wie ein Fenster zu einer anderen Welt, ein virtuelles Fenster natürlich nur, aber die Wirkung ist doch jedes Mal wahrhaftig spürbar. Nach dem Abspann reibt man sich die Augen und fragt: Wo bin ich? Neuerdings kommt eine andere Dimension hinzu; die Orientierung bei Filmende wird noch schwieriger, man fragt nun nämlich außerdem auch dieses: Welches Jahr haben wir eigentlich?

Das Motiv der Zeitreise hat Konjunktur im Kino. An der Spitze der deutschen Filmcharts steht seit Wochen die Produktion "Passengers", in der Jennifer Lawrence und Chris Pratt genug haben vom Leben auf der Erde. Sie lassen sich in kontrollierten Tiefschlaf versetzen, um eine 120 Jahre dauernde Reise in die Zukunft und auf einen anderen Planeten zu unternehmen. In "Arrival" tauchen Außerirdische mit sieben Beinen auf, die kein lineares Zeitempfinden haben. Sie bitten die Menschheit um Hilfe, weil sie wissen, dass sie in 3000 Jahren ein Problem bekommen werden, das sie nur gemeinsam mit uns Gestrigen lösen können. Und in "Interstellar" schlüpfen Wissenschaftler durch ein Wurmloch, durch eine physikalische Schleuse in andere Welten und Zeiten also, um in einer fernen Galaxie bewohnbare Planeten zu finden.

Wenn man auch Serien hinzunimmt, wird der Trend zum Fremdenverkehr in der vierten Dimension noch offensichtlicher: "The OA", "Travelers", "Timeless", "Frequency" und "Stranger Things" haben die Zeitreise zum Thema. Die "Süddeutsche Zeitung" hat im Fernsehen dieser Tage sogar eine kollektive imaginäre Auswanderungswelle entlang des Zeitstrahls diagnostiziert. Aber drückt sich in diesem Phänomen tatsächlich der Wunsch aus, der Gegenwart zu entfliehen: Hauptsache weg von heute?

Das Motiv an sich ist nicht neu. Der Schriftsteller H. G. Wells veröffentlichte 1895 seinen Roman "Die Zeitmaschine", der 1960 mit Rod Taylor in der Hauptrolle verfilmt wurde. Ein namenloser Held reist in einem technischen Gefährt in andere Epochen, zum Beispiel 800.000 Jahre in die Zukunft. Er entdeckt dort, dass die Menschheit ausgestorben ist. Dass ein solches Gedankenkonstrukt überhaupt errichtet werden konnte, lag an der allmählichen Lösung vom Zyklus der vier Jahreszeiten im 19. Jahrhundert. Die Industrialisierung beendete das naturzeitliche Denken: Die Zeit öffnete sich wie der Raum.

"Die Flucht aus der Zeit ist ein uralter menschlicher Traum", sagt der Soziologe Rainer Paris. In Wirklichkeit könne man der Zeit ja nicht entfliehen, wir seien in ihr gefangen. "Nur die räumliche Entfernung steht für uns teilweise zur Disposition, deshalb drückt die Zeitreise eine Sehnsucht nach dem ganz Anderen aus." Sie breche mit dem Prinzip des "Und so weiter". Sie mache verfügbar, was unserer Verfügbarkeit entzogen sei. "Wer durch die Zeit reist, kann ändern, was in der Realität unveränderbar ist, das ist zugleich ein Grundgefühl technischer Omnipotenz."

Die meisten Zeitreise-Filme handeln denn auch davon, dass ein Held in die Vergangenheit reist, um in jene historischen Abläufe einzugreifen, die negative Auswirkungen auf seine Gegenwart haben. "Zurück in die Zukunft" etwa. Oder die Serie "11/22/63" nach dem Roman "Der Anschlag" von Stephen King, in der ein Lehrer sich in die Vergangenheit begibt und die Ermordung Kennedys ungeschehen macht.

Aber taugt die Konjunktur der Zeitreise-Filme tatsächlich als Vorlage zur Gegenwartsanalyse? "Solche Produktionen setzen das Prinzip der Kontinuität außer Kraft", sagt Paris. In ihnen können Menschen einen als unbefriedigend oder gefährlich empfundenen Zustand per Knopfdruck und ohne allmähliche und fließende Übergänge ändern. Es ist der Traum von der plötzlichen Zäsur. Change!

Bis vor wenigen Jahrzehnten betrachtete man Zukunft als stetiges Vorankommen. Zukunft war die Verlängerung eines ungebrochenen Fortschrittsglaubens. Inzwischen glauben viele Menschen gar nicht mehr an die Zukunft. Und wenn doch, dann sehen sie in ihr nicht die Ausdehnung einer glücklichen Gegenwart. "Moralfragen bestimmen unsere Epoche, sie stellen sich jedoch oft in unterschiedlichen Grautönen dar, etwa in Form von Dilemmata", sagt Paris. Eine diffuse und schwierig zu konkretisierende Angst lähme viele, hinzu komme das Gefühl, nicht mehr so leicht zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Mancher resigniert, weil er bezweifelt, dass er als Einzelner etwas verändern kann. So spielen Zeitreise-Filme wie "Passengers" heute vor allem mit der Vorstellung, dass entschlossenes Handeln einen Ausweg bietet: möglichst rasche Entfernung von Gefahr und Unwohlsein. Einsatz lohnt sich wieder. Der Aufenthalt in anderen Zeiten wirkt dann zumeist reinigend und erhellend. Aufklärung jenseits des Kontinuums. Das Gedankenspiel als Katharsis.

Vor allem der Film "Arrival" kann in dieser Hinsicht therapeutisch wirken. Man erlebt die Gegenwart anders, wenn man um die Zukunft weiß. Vermutlich beginnt man sogar, anders zu handeln. "Die Couch der Armen", hat der französische Psychoanalytiker Félix Guattari das Kino genannt: Nicht nur bei Woody Allen ersetzt das Kino den Gang zum Psychiater.

Kino als Kur also. Vielleicht tritt man künftig ermutigt aus dem dunklen Saal ins Licht: Wo bin ich - und wenn ja, ab wann?

(hols)
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