Essen Thyssen-Kartell: Was wusste die Spitze?

Essen · Stahl-Vorstand Edwin Eichler soll schon viel früher als bisher bekannt vom sogenannten Schienen-Kartell gewusst haben, mit dem ThyssenKrupp und andere Konzerne ihre Kunden um einen Milliardenbetrag geprellt haben. Der Konzern räumt einen ersten Hinweis aus dem Jahr 2006 ein.

Bei den Ermittlungen zum sogenannten Schienenkartell gerät jetzt auch ThyssenKrupp-Stahlvorstand Edwin Eichler unter Druck. Der Aufsichtsrat des Dax-Unternehmens hat zwei Gutachten in Auftrag gegeben, die dem Vorwurf nachgehen, Eichler habe schon frühzeitig Hinweise auf das Kartell erhalten und nicht ausreichend reagiert. Das sagte gestern ein ThyssenKrupp-Sprecher und bestätigte damit einen Bericht des "Handelsblatts". Wie es in Konzernkreisen heißt, sollen die Ergebnisse noch in dieser Woche vorgelegt werden.

Bei dem Schienenkartell handelt es sich um einen der größten in Deutschland je aufgedeckten Fälle von illegalen Preisabsprachen. Neben der Bahn schädigten die Unternehmen ThyssenKrupp, Vossloh und Voestalpine über Jahre hinweg auch Nahverkehrsbetriebe. Die Düsseldorfer Rheinbahn wurde nach eigenen Angaben mit künstlich verteuerten Preisen für Schienenprodukte um drei Millionen Euro betrogen. Die Bahn soll um eine Milliarde Euro geschädigt worden sein. Im Juli verhängte das Bundeskartellamt ein Bußgeld von 124,5 Millionen Euro gegen das Kartell, wovon ThyssenKrupp 103 Millionen Euro bezahlen musste. Die Ermittlungen der Bochumer Staatsanwaltschaft dauern an.

Nach bisherigen Erkenntnissen war Eichler, der seit 2002 im ThyssenKrupp-Vorstand sitzt, nicht persönlich an den Absprachen beteiligt. Er muss sich jetzt aber gegen Vorwürfe verteidigen, dass er interne Hinweise auf ein Schienenkartell nicht ausreichend geprüft habe. Dazu teilte ThyssenKrupp gestern auf Anfrage mit: "Im Jahr 2006 gab es einen Hinweis auf mögliche Kartellabsprachen im Bereich der Gleistechnik, der sich auf Absprachen auf Ebene der Schienenhersteller bezog und damit nicht unmittelbar die ThyssenKrupp GfT Gleistechnik als Handelsorganisation betraf." Diesem Hinweis sei "unverzüglich" nachgegangen worden – ohne Ergebnis. ThyssenKrupp weiter: "Wie wir heute wissen, lag der Grund dafür in der hohen kriminellen Energie der Kartellanten, die durch bewusstes Verschweigen und systematisches Lügen eine frühere Aufklärung des Kartells nicht haben möglich werden lassen."

Mit der Prüfung der Vorwürfe gegen Eichler hat der Personalausschuss des Aufsichtsrates den Münchener Strafrechtler Klaus Volk beauftragt. Die Kanzlei Freshfields soll den Fall aktienrechtlich bewerten. Wilhelm Segerath, der als Chef des Konzernbetriebsrates auch im Aufsichtsrat sitzt, sagte gestern: "Ich glaube nicht, dass Eichler sich etwas zuschulden kommen lassen hat. Aber wenn die Prüfung ihm wider Erwarten ein konkretes Verschulden nachweist, muss auch ein Vorstand seinen Posten räumen."

Laut Segerath mussten die ThyssenKrupp-Mitarbeiter "genug unter den Manager-Fehlern leiden". Wegen milliardenschwerer Fehlinvestitionen in Übersee kündigte Konzernchef Heinrich Hiesinger 2011 den Verkauf von Unternehmensteilen mit 35 000 Mitarbeitern an. Im kommenden Jahr will die österreichische Voestalpine ihr Duisburger Schienentechnik-Werk "TSTG" schließen, das sie 2001 von Thyssen übernommen hat. Betroffen sind 350 Mitarbeiter. Segerath: "Die Schließung ist eine unmittelbare Folge des aufgeflogenen Schienenkartells." Voestalpine bestreitet das und gibt als Grund für die Schließung die mangelnde Wirtschaftlichkeit des Standortes Duisburg an.

(RP)
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