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In einem Gastbeitrag fordert der NRW-Wirtschaftsminister Milliarden für die Kohle-Regionen Pinkwart: Kohleausstieg gründlich vorbereiten

Die eine Jahrhundertaufgabe ist noch nicht ganz bewältigt, da wartet schon die nächste. Noch in den Fünfzigerjahren lebten allein im Ruhrgebiet fast 500.000 Menschen von der Kohle. Auf dem Bergbau gründete der Aufstieg Deutschlands zur Industrienation.

 Andreas Pinkwart (FDP), Wirtschaftsminister das Landes Nordrhein-Westfalen.

Andreas Pinkwart (FDP), Wirtschaftsminister das Landes Nordrhein-Westfalen.

Foto: dpa/Federico Gambarini

Kurz vor dem Jahreswechsel ist dieses große Kapitel der Industriegeschichte zu Ende gegangen, die letzte Zeche in Nordrhein-Westfalen wurde geschlossen. Der damit einhergehende Strukturwandel hat den Menschen und der Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen viel abverlangt, und er tut es noch. Doch er war notwendig: Die Steinkohleförderung war schon seit langem nicht mehr wettbewerbsfähig.

Kaum ist diese Ära geendet, erhitzt erneut die Kohle die Gemüter im Land. Es geht um den Ausstieg aus der Energiegewinnung aus Stein- und Braunkohle, und es geht um das Ende des Braunkohle-Tagebaus im Rheinland. Um es gleich vorwegzuschicken: Auch dieser Strukturwandel ist notwendig. Nicht nur, weil die fossilen Energieträger endlich sind, sondern vor allem aus Klimaschutzgründen. Für Nordrhein-Westfalen als das Bundesland mit den meisten Kohle-Kraftwerken und dem größten Bestand an energieintensiver Industrie ist das erneut eine gewaltige Herausforderung. Eine neue Jahrhundertaufgabe.

Beim Ausstieg aus der Steinkohleförderung war von Anfang an klar: Niemand soll ins Bergfreie fallen. Die Solidarität mit den Bergleuten war ebenso vorhanden wie die Einsicht, dem Ruhrgebiet neue wirtschaftliche Perspektiven schaffen zu müssen. Bei der Energiewende jedoch fehlt diese Klarheit bislang. Raus aus Atom, raus aus der Kohle – diese Forderungen sind schnell formuliert. Und finden breite Unterstützung. Es gibt in Deutschland keine einzige einflussreiche Stimme, die nicht sagt: Je eher wir aus der Kohleverstromung aussteigen, desto besser fürs Klima. Doch es fehlt noch die Bereitschaft, ein tragfähiges Ersatzsystem zügig aufzubauen.

Die Energiewende hat bislang vor allem den Strom teurer gemacht. Nirgendwo in Europa sind die Preise höher, Deutschland liegt 50 Prozent über dem EU-Durchschnitt. Weil zugleich die Klimaziele in Deutschland massiv verfehlt werden, attestierte kürzlich der Bundesrechnungshof der Energiewende, dass zwei der drei Grundpfeiler einer verantwortungsvollen Energiepolitik marode seien: Bezahlbarkeit und Klimaschutz. Wird ein schneller Ausstieg aus der Kohleverstromung ebenso naiv gestaltet, gerät bald auch der dritte Grundpfeiler in Gefahr: die Versorgungssicherheit.

Allein die deutschen Kohlekraftwerke sorgen mit ihren 46 Gigawatt täglicher Leistung für mehr als die Hälfte des zu Spitzenzeiten benötigten Stroms. Das ist vier Mal so viel wie die nun auslaufenden Kernkraftwerke und zehnmal mehr als Wind und Sonne zusammen sicher liefern. Wenn wir nun früher aus der Kohleverstromung aussteigen wollen als bislang bis Mitte des Jahrhundert geplant, und wenn zugleich der Strom verlässlich und bezahlbar sein soll, dann müssen sieben Grundbedingungen auf jeden Fall erfüllt werden:

1. Der Netzausbau muss beschleunigt werden. Der im Norden produzierte Windstrom muss in den Süden transportiert werden. 7.700 Kilometer dieser Netze sind notwendig, aber erst 12 Prozent davon stehen derzeit.

2. Wo Kohlekraftwerke schließen, müssen vielfach Gaskraftwerke entstehen, um die Versorgungssicherheit zu garantieren. Technisch müssen sie in der Lage sein, längerfristig auf synthetisches Gas aus erneuerbaren Quellen umgestellt werden zu können.

3. Die Sektoren Elektrizität, Wärme, Verkehr und Industrie dürfen nicht länger als getrennt voneinander betrachtet werden, sondern müssen in ein Gesamtsystem integriert werden, um alle Sektoren mit erneuerbaren Energien zu versorgen, den Energieverbrauch zu senken und Nachfrageschwankungen zwischen den Sektoren ausgleichen zu können.

4. Städtische Wohnviertel können sich mit Photovoltaik, Geothermie, Kraft-Wärme-Koppelung, Batteriespeicher und Elektromobilität weitgehend autonom versorgen. Diese dezentralen Lösungen müssen stärker gefördert werden.

5. Ein neuer Energiemarkt muss Investitionen für Erzeuger und Verbraucher anregen und sowohl Nachfrage als auch Angebot flexibel und technologieoffen ausgleichen. Für den Datenaustausch der Marktteilnehmer müssen intelligente, digitale Lösungen entwickelt werden.

6. Die EEG-Umlage, die derzeit den Strom für die Verbraucher so verteuert, muss anteilig aus dem Bundeshaushalt finanziert werden, und die energieintensive Wirtschaft braucht eine verlässliche Begrenzung der Energiewende bedingten Zusatzkosten sowie gezielter Anreize für Innovation und Investitionen in klimaneutrale Produktionstechniken.

7. Die Kohlereviere brauchen für die politisch veranlasste Transformation einen mittleren zweistelligen Milliardenbetrag, damit etwas nachhaltig Neues entstehen kann.

Die erforderlichen Maßnahmen müssen möglichst vorlaufend oder zumindest parallel zum Kohleausstieg getroffen werden. Konsequent umgesetzt, leisten sie den Kohleländern auch beim Strukturwandel einen wichtigen Beitrag, um Energie klimafreundlich, verlässlich und bezahlbar zu machen. Zudem ermöglichen sie der gesamten Republik den dringend notwendigen Neustart der Energiewende. Ihr Erfolg entscheidet darüber, wie schnell wir die Kohlekraftwerke ersetzen können. Natürlich kosten diese Maßnahmen Geld. Aber von der Bereitschaft zu diesen Investitionen hängt nicht nur der Klimaschutz ab, sondern auch die Zukunft von Hundertausenden qualifizierter und gut bezahlter Jobs.

Deutschland muss auch in einer klimaneutralen Welt führender Industriestandort in Europa bleiben. Deshalb geht es jetzt bei weitem nicht nur um die Kompensation fossiler Energieträger. Vielmehr geht es um den Umbau einer ganzen Industrielandschaft, hin zu einer treibhausgasneutralen Produktion. Der Schlüssel dafür heißt Innovation. In den neuen, digitalen Technologien liegen die Lösungen für smarte Stromnetze, moderne Mobilität und effiziente Energiespeicher. Höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung, in Wissenschaft und Technik sind daher unerlässlich.

Der Weg raus aus der Kohle muss gründlich und verlässlich vorbereitet werden. Das Fixieren eines Ausstiegsdatums allein rettet weder das Klima noch bringt es unser Land nach vorn. Zumal sich die Energiepreise mehr und mehr zum Brotpreis der Neuzeit entwickeln. Nicht erst die Proteste der Gelbwesten in Frankreich haben offengelegt, welch fundamentale soziale Frage eine Klimaschutzpolitik berührt, die hauptsächlich über die Belastung von Verbrauchern regulieren möchte.

Daher sind die oben aufgelisteten Grundbedingungen und alle weiteren Maßnahmen daran auszurichten, das energiepolitische Zieldreieck aus Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Bezahlbarkeit in der Balance zu halten. Gibt es hierfür einen breiten Konsens und verbindliche Ziele, kann Nordrhein-Westfalen beim Kohleausstieg vorangehen und ihn als Sprungbrett nutzen, um unser Land zum innovativsten, leistungsstärksten und klimafreundlichsten Industriestandort weltweit zu machen. Das ist die eigentliche Jahrhundertaufgabe. Sie muss uns gelingen, damit alle gewinnen: Umwelt, Klima, Menschen und nachfolgende Generationen.

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