Interview Willi Lemke: "Olympia ist kein Ort für Demonstrationen"

Düsseldorf · Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für Sport spricht mit unserer Redaktion über Missstände in Russland und den Gigantismus von Putin.

Interview: Willi Lemke: "Olympia ist kein Ort für Demonstrationen"
Foto: Andreas Bretz

Heute daheim in Bremen, morgen als Amtsträger in Tokio und Südkorea, dazwischen ein Interview mit unserer Zeitung — Willi Lemke ist mit seinen 67 Jahren energiegeladen wie ehedem. Der Aufsichtsratsvorsitzende des Fußball-Bundesligisten Werder Bremen, SPD-Politiker und ehemalige Senator der Hansestadt Bremen berät seit 2008 den Generalsekretär der Vereinten Nationen. Sein Aufgabengebiet: der Sport im Dienst von Frieden und Entwicklung.

Herr Lemke, in einem Monat beginnen in Sotschi die Olympischen Winterspiele. Freuen Sie sich darauf?

Lemke Ja, ich freue mich sehr. Auf die Olympischen Spiele und auf die anschließenden Paralympics.

Trotz all der negativen Begleiterscheinungen wie Gigantismus, die Diskussionen um das russische Homosexuellengesetz oder auch die terroristischen Anschläge zuletzt in Wolgograd?

Lemke Der Terrorismus und einzelne politische Fehler dürfen den Sport in seiner Friedfertigkeit und Freundschaftlichkeit nicht besiegen. Hier treffen sich Athleten, die sich seit Jahren, zum Teil seit Jahrzehnten auf diese wenigen Tage vorbereitet haben. Ihnen gilt der höchste Respekt. Wenn politische Themen auszutragen sind, gibt es andere Plattformen dafür.

Klingt romantisch.

Lemke Das ist realistisch. Sonst gibt es bald Olympische Spiele nur noch in einer Hand voll Ländern.

Ist der Sport für Sie unpolitisch?

Lemke Ganz und gar nicht. Der Sport an sich ist absolut politisch. Er beruhigt, er lenkt ab, er dient der Gesundheit und reduziert damit die Kosten der Sozialsysteme. Aber er kann auch missbraucht werden, wie das Beispiel der von den Nationalsozialisten inszenierten Olympischen Spiele 1936 in Berlin und Garmisch-Partenkirchen gezeigt haben. Dagegen muss man sich zur Wehr setzen.

Zurück zu Sotschi. Die Missstände in Russland dürften Ihnen nicht entgangen sein.

Lemke In meiner Eigenschaft als Berater des UN-Generalsekretärs bin ich auf der ganzen Welt unterwegs. Es gibt viele Länder, die man aus unserer westlichen Sicht kritisieren kann. Aber wir müssen auch die Entwicklungen in anderen Kulturen akzeptieren. In Deutschland gibt es übrigens auch Missstände.

Zum Beispiel?

Lemke Wir reden darüber, dass einige Länder erst in jüngster Vergangenheit Frauen in ihren Olympia-Mannschaften zugelassen haben. Aber es ist noch gar nicht so lange her, dass der Frauenfußball bei uns, sogar bei Werder Bremen, verpönt war. Oder nehmen wir den Umgang mit Homosexualität. Ich kann mich noch gut an den Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches erinnern, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte und erst 1994 offiziell gestrichen wurde.

Wie stehen Sie zum russischen Homosexuellengesetz, das es verbietet in der Öffentlichkeit — vor allem vor Kindern und Jugendlichen — für gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu werben?

Lemke Ich stehe der Toleranz, mit der wir in der liberalen, demokratischen Welt diesen Themen mittlerweile begegnen, sehr positiv gegenüber. Doch es ist nicht überall San Francisco, Berlin oder Köln. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, dass überall auf der Welt westliche Maßstäbe gelten müssen. Ich habe mir abgewöhnt, in jedem Land ein Haar in der Suppe zu finden.

Die ehemalige Tennisspielerin Billie Jean King, die zur US-Delegation in Sotschi gehört, hat im Sinne der Homosexuellen eine Aktion gefordert, wie sie Tommie Smith und John Carlos bei den Spielen 1968 gezeigt haben. Mit erhobener Faust, die in einem schwarzen Handschuh steckte, demonstrierten sie bei der Siegerehrung gegen die Rassendiskriminierung in den USA.

Lemke Ich fand das 1968 klasse. Die Sprinter hatten meine Solidarität. Aber das war dennoch eine Regelverletzung der Olympischen Spiele.

Wie stünden Sie so einer Aktion in Sotschi gegenüber?

Lemke Heute sage ich: Jeder hat das Recht, außerhalb der Olympischen Spiele alles zu sagen, aber die Wettkämpfe sollten dem Sport vorbehalten sein und nicht der politischen Demonstration. Aber noch einmal: inhaltlich teile ich die Kritik am russischen Homosexuellengesetz. Es widerspricht dem, was ich unter Toleranz und Respekt verstehe.

Sotschi richtet die teuersten Winterspiele der Geschichte aus. Dieser Gigantismus wirkt auf viele Beobachter verstörend.

Lemke Ich war ein paar Mal in Sotschi. Und ich kann Ihnen sagen, dass Sotschi fantastische Sportstätten und ein begeisterungsfähiges Publikum bieten wird. Die Russen sind eine große Sportnation, sie werden die Möglichkeiten haben, diese Anlagen auch nach Olympia angemessen zu nutzen.

Es scheint so, als baue sich Präsident Putin mit sportlichen Großereignissen sein Denkmal.

Lemke Wenn Putin eines Tages abtritt, werden die Russen beurteilen, ob er ein guter, ein schlechter oder ein mittelmäßiger Präsident war. Bei diesem Urteil spielen die Sportereignisse eine untergeordnete Rolle.

Spätestens seit Salt Lake City 2002, den ersten Spielen nach den Anschlägen in New York und Washington, finden Olympische Spiele im Hochsicherheitstrakt statt.

Lemke Das stört dieses Fest des Sports sehr. Aber es ist der Preis, den wir dafür zahlen müssen, dass es terroristische Gruppierungen gibt. Wir müssen das akzeptieren. Mir ist es lieber, dass jeder dreimal gecheckt wird, bevor er ein Stadion betritt, als dass ein Menschenleben zu beklagen ist.

Stichwort Fußball. Wann soll Ihrer Meinung nach die WM in Katar gespielt werden?

Lemke Die gesamte Fußballwelt war davon überrascht, dass Katar den Zuschlag bekam, weil ja alle wussten, wie im Sommer dort die Temperaturen sind. Spiele in klimatisieren Stadien wären sicher möglich, aber den Fans wäre so ein Turnier nicht zuzumuten. Stellen Sie sich unvorbereite Fans vor, die in der sengenden Hitze feiern — die gesundheitlichen Folgen könnten katastrophal sein. Ich halte November und Dezember für den geeigneten Zeitraum. Januar und Februar stehen wegen der Olympischen Winterspiele nicht zur Verfügung. Da sind sich IOC und Fifa einig.

Martin Beils führte das Gespräch.

(RP)
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