Analyse nach dem Turnier Die WM als Warnung für die Bundesliga

Düsseldorf · Anstatt das Spiel mit dem Ball einzustudieren, wollten viele Trainer bei der Weltmeisterschaft nur Fußball verhindern. Es bleibt zu hoffen, dass die Trainer in Deutschland diesen Trend nicht als Rechtfertigung für ihre eigene defensive Taktik sehen.

Das Fazit nach dieser Weltmeisterschaft fällt zwiespältig aus. Wir haben einige tolle Spiele erlebt: Belgiens Last-Minute-Drama gegen Japan sticht heraus, auch die hochklassigen Duelle zwischen Frankreich und Argentinien sowie Belgien und Brasilien bleiben in Erinnerung. Allerdings entpuppten sich die meisten Spiele dieser WM als zähe Defensivschlachten. Was bleibt von der WM in Russland?

Aus taktischer Sicht lag der Fokus ganz klar auf der Defensive. Weltmeister Frankreich steht sinnbildlich für die Vorgehensweise vieler Nationen: Alle französischen Spieler mussten Defensivaufgaben erfüllen. Zu jeder Zeit standen sechs, manchmal sogar sieben Franzosen hinter dem Ball. Dem Gegner Räume bieten für Konter? Auf gar keinen Fall! Frankreichs Trainer Didier Deschamps stellte die Defensive derart in den Fokus, dass Stürmer Oliver Giroud am Ende des Turniers mehr gelungene Defensivaktionen als Torschüsse vorzuweisen hatte.

WM 2018: Frankreich erklimmt die Fußballspitze - Pressestimmen
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Frankreich erklimmt die Fußballspitze - Pressestimmen

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Foto: AFP/ODD ANDERSEN

Die Absicherung gegen Konter ist das wohl wichtigste taktische Thema dieser WM. Viele Nationen rückten nicht mit mehr Spielern auf als nötig. Solche, die doch offensiv dachten, wurden gnadenlos ausgekontert. In erster Linie wäre hier natürlich die deutsche Mannschaft zu nennen. Gegen Mexiko mussten Mats Hummels und Jerome Boateng häufig alleine Situationen lösen. Dieses Modell scheint keine Zukunft zu haben im Weltfußball.

Auch das Gegenpressing fokussierten viele Teilnehmer. Hier waren wieder einmal die Franzosen die Vorreiter. Aber auch die Zweitplatzierten Kroaten bewiesen, wie wichtig ein direktes Nachsetzen nach Ballverlusten ist. Somit lässt sich effektiv verhindern, dass der Gegner den ersten Pass nach vorne spielen kann. Auch wenn ein hohes Pressing nicht das dominierende taktische Modell dieser WM war: Ein Gegenpressing nach Ballverlusten wagten alle großen Teilnehmer. Diese taktische Facette ist aus dem Fußball nicht mehr wegzudenken.

 Auffällig bei diesem Turnier war zudem, wie tief viele Teams verteidigten. Das Pressing im Mittelfeld, vor vier Jahren noch von fast allen Teilnehmern praktiziert, stirbt aus. Viele Teams stören nach Ballverlusten kurz in der gegnerischen Hälfte, ziehen sich dann aber an den eigenen Strafraum zurück. Das kollektive Verschieben im Mittelfeld trauen sich nur wenige Teams. Einerseits ist diese Variante sehr kräftezehrend. Die Russen, die solch ein Mittelfeldpressing favorisierten, liefen mit ihrer Strategie mehr als jeder andere WM-Teilnehmer.

WM 2018: Die Gewinner und Verlierer der WM in Russland
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Die Gewinner und Verlierer der WM in Russland

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Foto: dpa/Ina Fassbender

 Andererseits spekulierten viele Teilnehmer auf die fehlende Offensivstärke ihrer Gegner. Viele Teams konnten es sich leisten, am eigenen Strafraum zu verteidigen – der Gegner fand keine Lösungen gegen die kompakt verteidigten Defensivreihen. Nicht nur Deutschland oder Spanien taten sich schwer. Selbst Weltmeister Frankreich schloss die Gruppenphase mit einem Torverhältnis von 3:1 ab. Der Weltmeister brillierte im Ballbesitzspiel ebenso wenig wie nahezu alle anderen WM-Teilnehmer.

Es bleibt zu hoffen, dass die Bundesliga dieses Turnier nicht als Rechtfertigung für die eigene defensive Spielweise sieht. Obwohl die Trainer in der Bundesliga durchaus Zeit hätten, ausgeklügelte Offensivsysteme einzustudieren, fokussierten in den vergangenen Jahren die meisten Bundesligisten die Defensive. In der Bundesliga verteidigen die Teams zwar höher als bei der Weltmeisterschaft. Dennoch steht bei vielen Teams das Ballgewinnen auf der Prioritätenliste vor dem Ballverteilen. Diese Weltmeisterschaft bewies jedoch: Ohne eigene Idee, wie man Tore schießen will, scheidet man früh aus.

Insofern dürfte ein anderer taktischer Trend für die Bundesliga interessanter sein: die Standardsituationen. Nahezu ein Drittel aller Tore fielen nach Ecken oder Freistößen. Weltmeister Frankreich erzielte jeweils im Viertelfinale, im Halbfinale und im Finale den Führungstreffer nach einem ruhenden Ball. Halbfinalist England verließ sich fast gänzlich auf die eigene Stärke nach ruhenden Bällen. Gerade in engen, defensiv geprägten Spielen können Standards ein entscheidender Faktor sein.

WM 2018: die Bilder vom Finale zwischen Frankreich und Kroatien
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Frankreich - Kroatien: die Bilder vom Finale

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Foto: REUTERS/DYLAN MARTINEZ

 In Deutschland herrscht hier noch Nachholbedarf; nicht nur in der Nationalmannschaft, sondern auch in der Bundesliga. Gerade die Spitzenteams der Liga vernachlässigen dieses Thema. Dabei lassen sich Varianten bei Standards relativ leicht einstudieren. Die Engländer zeigten mit ihrem sogenannten „Love Train“, wie man einen kopfballstarken Spieler freiblocken kann. Hierzu reihten sich die Engländer hintereinander auf, als würden sie auf dem Amt Schlange stehen. Kurz bevor der Eckball in den Strafraum gelangt, schwärmen sie in alle Himmelsrichtungen aus. Diese Variante dürften wir in der kommenden Saison auch in der Bundesliga zu sehen bekommen.

 Von solchen Details abgesehen dürfte sich kaum ein Bundesliga-Trainer von dieser Weltmeisterschaft inspirieren lassen. Die defensiven Taktiken des Turniers beherrschen die meisten Trainer bereits aus dem Effeff. Offensiv wiederum bot dieses Turnier nur wenige taktische Überraschungen. Wer weiß, vielleicht nimmt der ein oder andere Trainer diese defensiv geprägte Weltmeisterschaft zum Anlass, seinen eigenen Stil zu überdenken. Denn auch wenn eine stabile Defensive Erfolge verspricht: Allzu positiv werden sich nur die Wenigsten an dieses Turnier zurückerinnern. Erfolg ist eben manchmal nicht alles.

Tobias Escher ist Mitbegründer des Taktikblogs „Spielverlagerung.de“, das zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat.

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