Getarnter Protest Rettet den Spaziergang!

Meinung | Düsseldorf · Corona-Gegner haben allerhand Begriffe gekapert. Den Spaziergang zum Beispiel, der als getarnte Demo in jüngster Zeit immer häufiger eskaliert. Dabei dient das Spazieren ursprünglich gerade keinen Zwecken. Widerstandslos sollte man den Begriff nicht aufgeben.

 Ein Spaziergang tut bei jedem Wetter gut.

Ein Spaziergang tut bei jedem Wetter gut.

Foto: dpa/Thomas Warnack

Auch in diesen Tagen sind wieder „Spaziergänge“ geplant – und nach den Erfahrungen der jüngsten Zeit dürften einige davon eskalieren. Denn was manche Gegner der Corona-Maßnahmen Spaziergang nennen, sind meist unangemeldete Unmuts-Demos, gern ohne Einhaltung von Abstands oder Hygieneregeln. Dagegen richten sie sich ja. Diese Spaziergänge sind  kein harmloses Flanieren, sondern als Provokation gedacht. Spazieren, als wäre nichts, seelenruhig gegen Auflagen verstoßen  – und wenn die Ordnungshüter an Regeln erinnern, die nun mal im Moment für alle gelten, wird Randale gemacht.

 Dabei ist ausgerechnet der Spaziergang ein wunderbar zweckfreies Vergnügen und darin Ausdruck bürgerlichen Stolzes. Denn lange war es nur den höchsten Ständen vergönnt, sich zum Lustwandeln in einen üppigen Garten oder barocken Park zu begeben, also zu Fuß unterwegs zu sein ohne äußeren Zweck und schnödes Ziel. Einzig, um Licht, Luft und Leben zu genießen. Heiter zu sein, und ein bisschen wie die Kinder.

Indem sich  Bürger im 19. Jahrhundert ebenfalls zum Spaziergang aufmachten, dokumentierten sie, nun auch über freie Zeit zu verfügen und sie dem erbaulichen Umherwandeln  widmen zu können. Wenn auch der bürgerliche Sonn- oder Feiertagsspaziergang – gerne auch zu Neujahr – weniger verspielt daher kam, eher der Gesundheit diente und der Repräsentation. Der gemessene Schritt hinaus auf Boulevards und Promenaden oder hinein in öffentliche Parks war auch ein Pflichtgang, zu dem man ernste Miene machen konnte.

Heute hat sich der Spaziergang solcher Zwänge entledigt. Man unternimmt ihn allein oder in Gesellschaft, mit oder ohne Hund, schätzt Bewegung, Natur oder einfach das Woanders sein. Auch unterhält es sich ungezwungen, wenn nur Bäume und Sträucher lauschen, und die Umgebung immer wieder neue Anreize liefert. Menschen, die tatsächlich in Diktaturen leben müssen, wissen das Draußen zudem als  abhörfreien Raum zu schätzen und wagen oft nur beim Spazierengehen, sich in aller Freiheit auszusprechen.

So ist der Spaziergang eine Institution des Ungestörtseins. Man kann sich in Gespräche und Gedanken vertiefen und dabei seine Runden drehen. Manchmal sieht oder trifft man jemanden, bleibt ein Weilchen stehen. Doch im Kern ist der Spaziergang introvertiert, dezent, beschaulich – und eben keine Demo, kein verkappter Protest, der es nur darauf anlegt, entlarvt zu werden, damit sich all der aufgestaute Frust entladen kann.

Allerdings ist es für Kritiker der Corona-Politik heute nicht leicht, ihre Position öffentlich zu vertreten, ohne in radikalere Kreise zu geraten. Und natürlich gibt es genug Anlass für Kritik. Doch ist nun mal jeder selbst  verantwortlich dafür, mit wem er so demonstrieren geht. Der Spaziergang jedenfalls sollte nicht widerstandslos den Falschen überlassen bleiben.

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