Gesellschaftskunde Dem Terror der Gleichzeitigkeit entgehen

Die Technik erlaubt uns, viele Dinge gleichzeitig zu tun. Doch das verhindert echte Zuwendung - wie sie zum Beispiel Kinder brauchen.

Zubehör für junge Familien verrät viel über eine Gesellschaft. Die neueste Erfindung ist ein Plastiktisch, den Eltern in den Schiebebügel des Kinderwagens klemmen können - um das Laptop darauf abzulegen. Stoßsicher und in Tipphöhe. So geht keine Zeit mehr verloren: Während das Kind zur Kita geschoben wird, lassen sich bereits die ersten E-Mails erledigen, dann kann es gleich nahtlos weitergehen im Büro. Oder die lästige Wartezeit am Spielplatzrand wird ausgefüllt mit ein bisschen Nebentätigkeit oder Zerstreuung beim Rumstöbern im Internet und in den sozialen Netzwerken.

Wir leben in einer Kultur der Gleichzeitigkeit. Seit das Internet mobil geworden ist und jeder den Zugang zu seinen Mails und der großen weiten Welt in der Hosentasche trägt, ist überall Büro. Überall Funkzone, um berufliche wie private Kontakte zu pflegen. Die technische Möglichkeit macht unser Leben angenehmer, flexibler, vernetzter, doch sie verleitet auch dazu, alles gleichzeitig tun zu wollen. Das macht kirre. Darunter leiden die immer Erreichbaren, aber noch viel mehr deren Kinder. Denn für sie ist keine Zeit mehr übrig - und vor allem keine Aufmerksamkeit.

Dabei hat die Forschung längst erwiesen, dass Kinder die Zeit mit ihren Eltern nur dann als Zuwendung wahrnehmen, wenn die sich wirklich mit ungeteilter Aufmerksamkeit um das Kind kümmern. Also nicht nebenher SMS schreiben oder ein bisschen in Unterlagen lesen. Die US-Forscherin Jenny Radesky vom Boston Medical Center hat auch untersucht, wie es sich auf die Verhältnisse bei Tisch auswirkt, wenn Eltern nebenher mit dem Smartphone beschäftigt sind. Ergebnis: Die Aggression nimmt zu. Kinder fordern Aufmerksamkeit, ziehen und zuppeln an den Eltern, die blenden das eine Weile aus - bis die Reizschwelle überschritten ist, dann gibt es Ärger.

Nun nützt es wenig, moderne Kommunikationsmittel zu verdammen. Wer wollte auf sein Mobiltelefon verzichten? Doch die neuen Möglichkeiten machen es nötig, immer wieder bewusst zu entscheiden, was wirklich wichtig ist. Und das ist keine Frage der Bequemlichkeit. Sich vom Smartphone absorbieren zu lassen, ewig die Mails und die Arbeit vorzuschieben, ist manchmal auch nur der einfachste Weg, realen Begegnungen zu entkommen. Denn die fordern, zwingen uns, Haltungen anzunehmen, gerade wenn man Zeit mit Kindern verbringt. Statt zu lamentieren gilt es also, Entscheidungen zu treffen. Und das Handy manchmal abzustellen. Und keinen Computertisch für den Kinderwagen zu kaufen.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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