Gesellschaftskunde Über das Leben ohne absolute Gewissheiten

Die Zeit der absoluten Wahrheiten ist vorbei. Darum muss der moderne Mensch selbst auswählen, nach welchen ethischen Grundsätzen er leben will - und sie im Alltag verteidigen. Zum Beispiel beim Elternabend.

Es gehört zu den Kompliziertheiten unserer Zeit, dass Gut und Böse, richtige und falsche Entscheidungen nur noch schwer zu unterscheiden sind. Ist es nun gut, Geld für Afrika zu spenden oder zementiert das nur die Strukturen der Bevormundung dort? Hilft es den Näherinnen in Bangladesch, wenn Kunden hierzulande teure Kleider kaufen oder vergrößert das nur die Gewinne der Edelanbieter? Ist es richtig, dem eigenen Kind alle denkbarenFreizeitwünsche zu erfüllen, um ihm den bestmöglichen Start ins Leben zu garantieren oder dreht man so nur mit an der Leistungsspirale?

Der moderne Mensch muss sich für immer mehr verantwortlich fühlen, hat aber zugleich die klaren Moralvorgaben des religiösen Zeitalters verloren. Zurück bleiben Ambivalenz und der einsame Individualist, der sich ständig entscheiden soll. Und zwar nicht mehr nur in den konkreten Fragen seines Lebens. Er muss sich auch für ein Wertesystem entscheiden, das ihm für eine gewisse Zeit die Maßstäbe für sein Handeln vorgibt. Dann ist der Großstädter eine Zeit lang Tierethiker und lebt vegetarisch. Und wenn ihm der Kampf gegen die eigenen Gelüste zu anstrengend wird, schiebt er in seinem Wertesystem die Freiheit an erste Stelle, isst wieder, was er will, und engagiert sich für offene Software oder auch den Bürgerentscheid.

In der Spätmoderne, in der wir angekommen sind, kann sich der Zeitgenosse nun mal nicht mehr auf absolute Wahrheiten stützen. Deswegen fällt er nicht automatisch in die Anarchie, denn die würde ihm totale Ungewissheit in der Ausrichtung seines Tuns aufbürden. Darum sucht er weiter nach Halt in ethischen Konstrukten. Er ist aber verdammt, aus dem Nebeneinander unterschiedlicher Wertesysteme auszuwählen — und anschließend sich und seiner Umwelt über diese Wahl immer wieder Rechenschaft abzulegen.

Das ist anstrengend, das birgt Konfliktpotenzial. Wer mal bei einem Elternabend erlebt hat, wie leidenschaftlich Menschen darüber streiten können, welche Kosten für eine Klassenfahrt angemessen sind, weiß, wie enervierend es sein kann, wenn unterschiedliche Wertesysteme aufeinander prallen. Doch solche Kämpfe sind auch Zeichen für die Offenheit und Vitalität einer Gesellschaft. So mühsam es ist, ohne absolute Gewissheiten zu leben, es zwingt den Einzelnen zum Denken, Streiten, Abwägen.

Und so kann er am Ende auch zu dem Schluss kommen, dass es vernünftig ist, für das eigene Leben von etwas Absolutem n auszugehen. Von einer Instanz der Liebe zum Beispiel, die den Menschen lehrt, dass der Dienst am Nächsten mehr beglückt als jeder Egoismus. Kann Freude machen, für diese Sicht zu streiten.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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