Gesellschaftskunde Warum wir Genies nicht zu sehr verehren sollten

Der Kult ums Genie verleitet zu der Vorstellung, Hochbegabte seien nun mal genetisch bevorzugt und damit unerreichbar. Dabei steckt in genialen Leistungen stets Mühe - die jeden motivieren kann.

Genie zu sein, ist in erster Linie Arbeit. Das ist eine wenig romantische Vorstellung. Und noch dazu eine, die in Deutschland kaum Tradition besitzt. Das verrät schon die Sprache. Im Deutschen geht der Begriff des Genies auf das lateinische "ingenium" zurück, das angeborene Talent. Und so hat sich auch im Denken die Vorstellung verfestigt, das Genie sei gesegnet mit außerordentlicher Schaffenskraft, mit einem überragenden Geist und ungewöhnlich kreativem Potenzial. Und das alles breche sich mit naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit Bahn und bringe Menschen hervor wie Mozart oder Picasso oder Einstein, die in genialischen Schüben Überragendes hervorbringen.

Diese Vorstellung von der Genialität hat zweierlei zur Folge: Verehrung des Genies. Und größtmögliche Distanzierung. Wenn Genies gleichsam vom Himmel fallen und mit unerreichbaren Talenten gesegnet sind, muss der Normalsterbliche gar nicht erst versuchen, Höchstleistungen zu vollbringen. Er hat das Talent nun mal nicht abgekriegt, kann sich also getrost mit der Mittelmäßigkeit zufriedengeben.

Im englischen Sprachraum dagegen lässt sich das Genie vom Begriff des Genius herleiten, von jenem Schutzgeist also, der in der römischen Religion den Charakter eines Mannes prägt und über dessen Zeugungskraft wacht. Der Genius ist Ausdruck einer Persönlichkeit, er wird hervorgebracht auch durch das Leben selbst. Im englischen Sinne ist das Genie also nicht nur genetisch bevorzugt, es muss auch im Laufe seines Lebens Haltung zeigen, muss seine Talente ausbilden, Mühe aufwenden, um hervorzubringen,was in ihm angelegt ist.

Diese Sichtweise passt zu einem Land wie England, das den Puritanismus hervorgebracht hat, ein Religions- und Moralgebäude also,das ganz auf den Fleiß des Einzelnen setzt. Genies fallen nicht vom Himmel, Mozart hat schon als Kind gerackert, um es zu jener Meisterschaft zu bringen, an der wir uns noch heute erfreuen.

Es motiviert, das Mühevolle an genialen Leistungen anzuerkennen. Denn darin liegt eine Wertschätzung der Arbeit, der Beharrlichkeit, des Willens, seine Sache gut zu machen. Nicht jedem ist das Talent eines Picasso gegeben. Trotzdem darf man den Pinsel in die Hand nehmen und darf so lange üben, bis aus der schiefen Skizze ein passables Porträt geworden ist. Der gleiche Geist, der aus dem Hochbegabten das Genie macht, macht aus dem Normalbegabten einen Meister seiner Klasse. Wer das anerkennt, wird ohne alle Verbissenheit danach streben, sich zu verbessern. Davon profitiert die Gesellschaft am Ende mehr als von den Streichen der Genies.

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(RP)
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