Gesellschaftskunde Warum wir Wettbewerben misstrauen sollten

Wettbewerbe etwa in der Musikszene suggerieren, objektiv die größten Talente auszusieben. Dabei kann es in der Kunst keine absoluten Gewinner geben, sie lassen sich nur besser vermarkten.

Über die Karriere von Musikern entscheidet heute ihr Erfolg bei Wettbewerben. Wer auf die Podien der bedeutenden Konzertsäle dieser Welt will, muss auch einen bedeutenden Preis gewonnen haben - beim Tschaikowski-Wettbewerb in Russland oder dem Chopin-Wettkampf in Polen mindestens. Dieses Schau-Spielen junger Talente suggeriert Objektivität. Wettbewerbe vermitteln das Gefühl, sie siebten unbestechlich die Besten aus, verschafften angenehme Klarheit auf dem unübersichtlichen Feld der Kunst. Als könne es auch dort einen Leistungsvergleich mit der Hundertstel-Genauigkeit von Sportausscheidungen geben.

Doch die Qualität von Künstlern lässt sich nicht messen wie die Geschwindigkeit von Kurzstreckenläufern. Selbst wenn Eliteorchester mögliche neue Mitglieder anonym und hinter einem Vorhang vorspielen lassen, um jeden Einfluss durch eigentlich irrelevante Faktoren wie Aussehen, Auftreten, Geschlecht auszuschließen, sind ihre Entscheidungen doch subjektiv. Was eine gelungene Interpretation, ein schöner Ton, was musikalischer Charakter ist, ist eine Frage des Könnens - aber immer auch des Geschmacks.

Und das ist gut so. Denn diese Unschärfe, diese Unsicherheit bedeutet Freiheit. Genau in dieser Grauzone lebt die Kunst. Denn jeder Zuhörer muss und darf selbst entscheiden, was für ihn eine gelungene Interpretation ausmacht. Und er darf darüber streiten mit anderen Zuhörern, mit Experten, mit Kritikern.

Wettbewerbe verhindern solche Diskurse, weil sie an die Stelle von Debatten absolute Urteile stellen. Sie gaukeln Eindeutigkeit vor, wo Pluralität herrschen müsste, provozieren Entscheidungen, die dann über Karrieren, Lebenswege, Menschen bestimmen. Wettbewerbe entfalten diese Macht, weil auch Künstler heute auf einem Markt bestehen müssen. Und auf diesem Markt schaffen Wettbewerbe Eindeutigkeiten, die sich gut vermarkten lassen. Gewinner sind immer schon Marken, ihre Qualität scheint garantiert, da können die Ticket-Preise steigen.

Entdeckungen aber macht man abseits dieser Maschinerie. Denn es gibt sie natürlich, die großen Künstler, die nie Sieger werden, die den Anforderungen eines Ausscheidungsspektakels nicht entsprechen, aber aus tiefster Unbedingtheit Musik machen oder schreiben oder Theater spielen.

Wer diese Künstler entdecken will, muss den Mechanismen des Kulturmarktes misstrauen, muss den eigenen Blick schärfen. Wettbewerbe schaffen Eindeutigkeit, das ist bequem, das entlastet von der Unübersichtlichkeit der Moderne, die viele überfordert. Vertrauen sollte man ihnen nicht.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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