Ukraine Regierungschef Arseni Jazenjuk tritt zurück

Kiew · Angesichts des Bruchs der Regierungskoalition in der Ukraine hat Ministerpräsident Arseni Jazenjuk seinen Rücktritt erklärt. Er ziehe die Konsequenzen aus der Auflösung der Regierungskoalition, erklärte Jazenjuk am Donnerstag im Parlament in Kiew. Der bisherige ukrainische Vize-Ministerpräsident Wladimir Groisman soll die Regierung übergangsweise führen. Das teilte Innenminister Arsen Awakow am Donnerstag in Kiew mit

 Arseni Jazenjuk legt sein Amt nieder.

Arseni Jazenjuk legt sein Amt nieder.

Foto: dpa, tba fdt lre

Jazenjuk hat seinen Rücktritt auch mit dem Scheitern mehrerer Wirtschaftsgesetze begründet. "Was heute hier im Parlament geschehen ist, hat dramatische Folgen für das Land", sagte der 40 Jahre alte Politiker am Donnerstag in Kiew. In der Obersten Rada war zuvor ein Gesetz gescheitert, das die Beteiligung ausländischer Investoren am maroden Gastransportsystem der Ukraine möglich gemacht hätte. Damit sollte die Abhängigkeit des Transitlandes von Russland verringert werden. Jazenjuk hatte bereits zuvor mit Rücktritt gedroht, sollte die Initiative keine Mehrheit finden. "In Zusammenhang mit dem Zerfall der Regierungskoalition sowie der Blockade einer Reihe wichtiger Gesetzentwürfe erkläre ich hiermit meinen Rücktritt", sagte der Parteifreund von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko.

Zugleich kritisierte er den Bruch der Regierungskoalition, der inmitten einer schweren wirtschaftlichen Krise und ungeachtet der Kämpfe der Armee mit prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine erfolgt sei. Zuvor hatten mehrere Regierungsparteien ihren Rückzug verkündet, Parlamentspräsident Alexander Turtschinow verkündete offiziell den Bruch der Mehrparteienkoalition. Mit ihrem Rückzug wollten die Parteien den Weg für vorgezogene Parlamentswahlen ebnen.

Diese werden von Präsident Petro Poroschenko gewünscht, er will sich damit auch im Parlament eine sichere Machtbasis schaffen. Poroschenko hatte die Präsidentschaftswahlen im Mai klar gewonnen. Damit der Staatschef das jetzige Parlament auflösen kann, müssen die Abgeordneten nach der nun vollzogenen Auflösung der bisherigen Regierungskoalition formal feststellen, dass auch keine neue Regierung gebildet werden kann. Danach kann der Präsident laut ukrainischer Verfassung mit einer Frist von zwei Monaten Neuwahlen ansetzen.

Als "politischen Selbstmord" hat Jazenjuk (40) das Amt des ukrainischen Ministerpräsidenten einst bezeichnet - angesichts leerer Staatskassen und eines bewaffneten Konflikts mit Separatisten. "Diese Regierung steht vor einer ungeheuerlichen Herausforderung: Sie soll nichts Geringeres als das Land retten", sagte der prowestliche Politiker. Nun hat Jazenjuk seinen Rücktritt erklärt, um Neuwahlen zu ermöglichen. Seiner Vaterlandspartei droht dabei eine Zerreißprobe, zwischen dem Flügel um Jazenjuk und den Unterstützern der ehemaligen Regierungschefin Julia Timoschenko.

Mit großem Reformeifer hatte der Professorensohn Ende Februar 2014 das Amt angetreten. Der Westen setzte große Hoffnungen in ihn. "Ich glaube, dass Jaz der Typ ist, der ökonomische Erfahrung mitbringt", sagte die US-Spitzendiplomatin Victoria Nuland. Doch EU und Internationaler Währungsfonds (IWF) knüpften ihre Milliardenhilfen an schmerzhafte Reformen, die die Popularitätswerte der Regierung in den Keller trieben. Das betraf auch Jazenjuk, der eine nicht unumstrittene Galionsfigur der Proteste auf dem Kiewer Maidan neben dem früheren Boxweltmeister Vitali Klitschko war.

"Die Ukraine braucht unbedingt einen Marshall-Plan und kein Kriegsrecht, um die politische und wirtschaftliche Situation zu stabilisieren", betont der perfekt Englisch sprechende Vater zweier Töchter. Je tiefer aber das Land im erbitterten Konflikt mit prorussischen Aufständischen versank, desto schwieriger wurde die Regierungsarbeit. Kritiker warfen ihm zuletzt eine dürftige Bilanz vor - einzig ein neues Bildungsgesetz sei gelungen. Der IWF zeigte sich aber zufrieden mit den Sparmaßnahmen.

Kämpfe im Osten gehen weiter

Unterdessen werden die Kriegsfolgen in der Ost-Ukraine immer verheerender. Die Regierungstruppen kämpfen weiter massiv mit Panzern und Luftwaffe. Sie wollen die Großstädte Lugansk und Donezk bald einnehmen und von prorussischen Separatisten "säubern". Zuversichtlich macht sie die von Präsident Petro Poroschenko befohlene Teilmobilmachung von 60.000 Männern. Die Armee und ihre proeuropäische Führung hoffen zudem nach dem mutmaßlichen Abschuss der malaysischen Passagiermaschine mit fast 300 Menschen an Bord - den Kiew den Separatisten anlastet - weiter auf militärische Hilfe des Westens.

In der ukrainischen Hauptstadt möchte sich Poroschenko am Tag der Unabhängigkeit am 24. August als siegreicher Oberbefehlshaber präsentieren. Dann will er sein Versprechen einlösen, die Ukraine von "russischen Invasoren" befreit zu haben - und Parlamentsneuwahlen ansetzen. Doch ob der sich seit April verschärfende Konflikt mit wohl schon Tausenden Toten und Verletzten tatsächlich bald lösen lässt, ist ungewiss.

Der Chef des ukrainischen Sicherheitsrates, Andrej Parubij, verkündet zwar immer neue Siege der Armee. Das mag angesichts von Vorstößen in Richtung der Separatistenhochburgen Donezk, Lugansk und Gorlowka und der Befreiung von Sewerodonezk stimmen. Der wahre Zustand der ukrainischen Armee ist jedoch an Berichten von Soldaten abzulesen.
Die Klagen ähneln sich: Nichts zu essen sowie unklare Befehle und massive Verluste durch ständigen Raketenwerferbeschuss.

Schwierige Lage an der Front

Die Lage an der Front wird immer verzweifelter. Soldaten klagen, kaum ausreichend Trinkwasser zu haben - ganz zu schweigen von medizinischer oder militärischer Ausrüstung. Viele Rückkehrer aus dem Kampfgebiet sind schwer traumatisiert oder körperlich versehrt.

Die Soldaten stünden täglich unter massivem Beschuss seitens schwer bewaffneter prorussischer Separatisten, wie der Freiwillige Juri Birjukow von der 79. Luftlandebrigade erzählt. "Die Jungs haben gelernt sich einzugraben, doch da gibt es nur schweren Untergrund, Muschelkalk und andere Gemeinheiten, dort gräbst du dich nur schwer ein", berichtet er. "Jeden Tag gibt es Verluste, die Leute sterben täglich, jeden Tag geht Ausrüstung verloren."

Birjukow ärgert sich über die Kommandeure weitab der Front, die "Saunen und Fitnessanlangen, weiße Tischdecken und schöne Offizierszelte" hätten. Die Gefahr an der Front sei dagegen besonders groß, weil immer wieder von Verrätern Informationen an die Separatisten verkauft würden.

Die prorussischen Kräfte dagegen führen ihren Krieg in der Ukraine weiter nicht nur mit schweren Waffen. Mit Videos von mutmaßlich bei Bombenangriffen durch ukrainische Truppen getöteten Zivilisten laden sie im Propagandakrieg nach. Tote Frauen, Kinder und Männer auf Märkten, auf der Straße, in Gärten und Wohnungen. Die erschütternden Aufnahmen, veröffentlicht von der Separatistenseite novorosinform.org, laufen - wie viele Berichte - mit dem Titel "Völkermord" an der prorussischen Bevölkerung.

Wer die Oberhand hat oder am Ende siegt, ist kaum vorherzusagen, weil immer neue Waffen und Kämpfer in das Konfliktgebiet gelangen. "Die Verluste des Gegners liegen um einiges höher als bei uns", behauptet der selbst ernannte Verteidigungsminister Igor Strelkow (Girkin) in der nicht anerkannten "Volksrepublik Donezk". "Die Lage in Donezk ist gespannt. Die Kämpfe und der Artilleriebeschuss dauern an. Es gibt Tote und Verletzte", heißt es im Tagesbericht Strelkows. Auch Panzer hätten die prorussischen Kampfverbände bei den Gefechten verloren.

Schätzungen zufolge stehen in der Ostukraine mehr als 40 000 Aktive der Regierungstruppen bis zu 20 000 Freischärlern der Separatisten gegenüber. Unbekannt ist die Zahl der Kämpfer in Freiwilligenbataillonen, die dem Innenministerium unterstehen und ebenfalls gegen die Aufständischen vorgehen. Auch weil das alles nicht reicht, gibt es nun Zehntausende Einberufungsbefehle für 18- bis 60-Jährige.

Auf eine Reserve von mehr als zehn Millionen Männern könne das Land noch zurückgreifen mit weiteren Teilmobilmachungen, heißt es warnend in Kiew an Moskau. Die Russen stehen weiter dringend im Verdacht, den Aufstand mit Personal, Waffen und Geld zu schüren.

(DEU)
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