Jahresrückblick 2009 2010 entscheidet sich das Schicksal Afghanistans

Düsseldorf (RPO). Was ist in Afghanistan wirklich los? Die Vorgänge in der 5200 Kilometer entfernten asiatischen Krisenregion werden in Europa bis heute nur mosaikartig wahrgenommen.

Chronik: Schlüsseldaten zu Afghanistan
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Chronik: Schlüsseldaten zu Afghanistan

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Foto: AFP

Der Luftangriff auf deutschen Befehl, bei dem auch Zivilisten starben, hat für nicht enden wollende innenpolitische Turbulenzen gesorgt; der massive Betrug bei den Präsidentenwahlen löste, ebenso wie ein einzelnes frauenfeindliches Gesetz, für einige Tage breite Empörung aus; die Meldung über mehr als 500 am Hindukusch getötete alliierte Soldaten allein im Jahr 2009 lässt die Sicherheit in dem fernen unbekannten Land ebenso fragwürdig erscheinen wie der blutige Terrorangriff auf ein Gästehaus der Vereinten Nationen in Kabul am 28. Oktober.

Andererseits werden schwer nachprüfbare Erfolgszahlen über neue Schulen und Krankenhäuser bis hin zum Bau von Brücken und Straßen und dem angeblich bestens funktionierenden Aufbau einer eigenen afghanischen Armee verbreitet. Was sagt zudem ein einzelner gemeldeter Anschlag über die tatsächliche Lage in einem Land aus, das etwa zweimal so groß ist wie Deutschland?

Wahlen als trauriger Höhepunkt

Daraus kann kein echtes Gesamtbild entstehen. Vielleicht wurde die Situation in Afghanistan 2009 auch deshalb als besonders düster, ja, fast aussichtslos empfunden, weil sie erstmals mehr allgemeine Aufmerksamkeit fand. Trauriger Höhepunkt war die Präsidentschaftswahl im Herbst, bei der Hamid Karsai zwar 54,6 Prozent der Stimmen und damit die notwendige absolute Mehrheit für eine weitere Amtszeit erreicht hatte. Es war aber ein Sieg durch massiven Betrug, so urteilten die EU-Beobachter in Kabul: Vermutlich sei im Durchschnitt eine von vier Stimmen gefälscht worden.

Diese Wahl wurde deshalb im Westen als schwerer Rückschlag interpretiert. Doch Maßstäbe europäischer Demokratien passen nicht auf das kriegszerstörte, zerrissene und rückständige Land. Aus afghanischer Sicht war es ein Erfolg, dass trotz der Drohungen der Taliban 6200 Wahllokale geöffnet waren und 90 Prozent der Bürger die Möglichkeit hatten zu wählen.

Die zeitgleich stattfindenden Provinzwahlen mit 3300 Kandidaten nahm außerhalb des Landes niemand wahr. Sie liefen wohl zu reibungslos. Und mehr als fünf Millionen Flüchtlinge sind inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt, was wohl nicht der Fall wäre, wenn es dort so chaotisch zuginge, wie die jeden Tag verbreiteten Negativ-Nachrichten über Afghanistan es vermuten lassen.

Unbestritten ist zwar, dass die westlichen Staaten ihre Anstrengungen vergrößern müssen. Sie müssen aber auch ihre Sichtweise verändern: Afghanistan ist keine Nation, die etwa mit Frankreich oder der Schweiz vergleichbar wäre. Das Land lebt laut dem dort gültigen persischen Kalender zurzeit im Jahr 1387, was westliche Experten vor Ort für ausgesprochen symbolträchtig halten.

Denn mittelalterliche Strukturen beherrschen die Gesellschaft: Außerhalb der Hauptstadt Kabul regieren Stammesfürsten und ehemalige Kriegsherren die bitterarme Bevölkerung nach Gutdünken. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung von insgesamt 31,9 Millionen Menschen beträgt 17,6 Jahre (Deutschland: 43 Jahre). Jede Frau hat statistisch 6,6 Kinder; die Lebenserwartung beträgt nur 43 Jahre (Deutschland: 79,8). Drei von vier Afghanen sind Analphabeten. Das alte islamische Recht, die Scharia, wird streng angewendet. So sind Steinigungen angeblicher Ehebrecherinnen bis heute üblich.

Stammesregeln wie das Paschtunwali ersetzen oft Gesetze. Die darin vorgegebene Gastfreundschaft soll dem Terrorführer Osama bin Laden in der Grenzregion Wasiristan das Untertauchen ermöglicht haben. Für die Afghanen scheinen deshalb die westlichen Helfer und Soldaten — oft auch noch weiblichen Geschlechts - von einem anderen Stern zu kommen. Ihre Vorgehensweise und ihre Wertvorstellungen werden häufig gar nicht verstanden.

Bundeswehr-Angriff wird begrüßt

So wurde der von einem Bundeswehr-Oberst befohlene Luftangriff auf die entführten Tankwagen in der Region Kundus selbst breit begrüßt: Endlich einmal zeigten die deutschen Soldaten Zähne und versuchten, die radikal-islamischen Taliban zurückzudrängen, die inzwischen auch im Norden ganze Landstriche terrorisieren. Die ausschließlich um die zivilen Opfer geführte innenpolitische Diskussion in Deutschland bis hin zum Ministersturz wird dagegen von den meisten Afghanen, die jahrzehntelange Kampfhandlungen ertragen mussten, nicht ansatzweise nachvollzogen.

Auch die Alliierten beäugen die Bundeswehr misstrauisch, die - strikt an die deutschen Gesetze gebunden - militärisch nicht wirkungsvoll agieren, sondern günstigstenfalls reagieren kann. Und selbst dann droht beim Waffeneinsatz den beteiligten Soldaten ein langwieriges Gerichtsverfahren in der Heimat.

Westliche Demokratien — das wissen leider auch die Taliban - sind anfällig für Verluste und vermögen ihren Bürgern den Sinn des Einsatzes immer schwerer zu vermitteln. So musste die Regierung in Paris im August 2008 nach der Ermordung von zwölf Fallschirmjägern viel Überzeugungsarbeit leisten, um die Forderungen nach einem Komplettabzug abzuwehren.

Amerika hat den Vietnam-Krieg nicht militärisch, sondern psychologisch durch die unhaltbar gewordene Stimmungslage in den USA verloren. Das muss für den Einsatz in Afghanistan eine deutliche Warnung sein. Natürlich sind die versteckt und in Zivil operierenden Taliban militärisch nicht vollständig zu besiegen. Sie können aber militärisch auch niemals gewinnen — es sei denn, die westlichen Staaten geben sich selbst auf.

Dass der seit 2002 laufende Einsatz in Deutschland immer noch nicht richtig eingeschätzt, macht nicht nur der stete Eiertanz um das Wort "Krieg", sondern auch die große Aufregung um eine Äußerung von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg Anfang November im ZDF deutlich: Der Minister hatte festgestellt, dass "Afghanistan nicht mit militärischen Mitteln zu gewinnen" sei, was eigentlich eine Binsenweisheit ist.

Der Schlüssel zum Erfolg liegt allein im erfolgreichen Wiederaufbau des Landes. Soldaten können dafür nur Zeit gewinnen, in dem sie die zivilen Anstrengungen so weit wie möglich vor Anschlägen der Islamisten schützen. Hier aber hakt es: So hat Deutschland, das sich vollmundig als gesamtverantwortlich für den Aufbau der Polizei erklärt hat, selbst lediglich rund 50 Beamte zusammenbekommen, um eine geplante Truppe von Hunderttausenden afghanischer Ordnungshüter auszubilden.

Internationale Hilfsgelder versickern in großem Stil; Bestechung und Vetternwirtschaft beherrschen das gesamte Leben. So ist es übliche Praxis, dass zum Beispiel Gehälter für Polizisten "verschwinden" oder Familienangehörige von Politikern unabhängig von ihrer Qualifikation hohe Posten im Staatsdienst erhalten. Die Bevölkerung wartet dagegen vergeblich auf Unterstützung, ihre Hoffnung schwindet. Da aber der "Normalbürger" keine Verbesserungen bemerkt, tickt die Uhr zunehmend gegen die "Fremden" im Land.

Der deutsche Nato-General Egon Ramms, für seine mutigen Worte bekannt, brachte es im November bei einer Pressekonferenz auf den Punkt: Der Ausbau eines funktionierenden Staates komme nicht schnell genug voran, kritisierte der Vier-Sterne-General, dessen "Joint Force Command" vom niederländischen Brunssum aus die internationale ISAF-Schutztruppe am Hindukusch mit insgesamt 71000 Soldaten führt.

Politisch gehe viel Zeit verloren. Korruption, Missmanagement und Terrorismus würden nicht energisch genug eingedämmt. Das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung in die westlichen Staaten schwinde zunehmend. "Die Taliban werden uns zwar nicht aus dem Land werfen können. Aber bloßes Abwarten hilft nicht." Das Militär könne das "nicht ausreichende Handeln" beim Aufbau von Verwaltung, Justiz und Polizei und der Entwicklung der Landwirtschaft nicht ausgleichen.

Ramms: "Ich werde nicht ungeduldig. Ich fürchte aber, dass die Bürger unserer westlichen Staaten ungeduldig werden. Und langfristig handeln Politiker nicht gegen die Meinung der eigenen Wähler." Die Erfolge — erstmals habe 2009 die Ernte die Versorgung der Bevölkerung abgedeckt — würden allerdings zu wenig wahrgenommen.

Zwei Sonderprobleme des Landes machen jeden Fortschritt besonders mühsam: Der Drogenanbau und die Zusammensetzung der Bevölkerungsgruppen. Afghanistan ist weiterhin weltgrößter Opiumproduzent. Die mächtigen Drogenbosse können ihre dunklen Geschäfte nur im Schutz der Anarchie tätigen.

Nicht alle Anschläge sind deshalb den Taliban zuzuschreiben. Die Warlords hatten noch bis 2003 Privatarmeen von insgesamt 100.000 Mann unter Waffen, aktuelle Zahlen sind unbekannt. Da sie höheren Sold zahlen, laufen viele Soldaten und Polizisten zu ihnen über. Das Abbrennen von Mohnfeldern durch Isaf-Soldaten hat die Wut auf "die Fremden" vergrößert: Tausende Bauernfamilien leben vom Verkauf des Roh-Opiums.

Afghanistan besteht aus neun großen Volksgruppen. Damit entwickelt sich nur schwer eine nationale Identität. Die willkürlichen Grenzen aus britischen Kolonialzeiten zerschneiden Stammesgebiete und schüren weiteren Hass. Mitten durch das Gebiet der Paschtunen führt die 2450 Kilometer lange Grenze zu Pakistan.

Dort gibt es 12.000 Koranschulen, in denen junge Leute zum Kampf gegen die "christlichen Kreuzritter" motiviert werden. Außerdem unterstützen islamistische Kreise im ebenfalls krisengeschüttelten Pakistan die Taliban materiell. Unklar ist die Rolle der anderen Nachbarstaaten: Der Iran fühlt sich durch westliche Streitkräfte umzingelt und hilft deshalb angeblich den Terroristen. Weil Aserbaidschan und Turkmenistan die Überfluggenehmigung verweigern, musste die Nato den geplanten Einsatz von Awacs-Radarflugzeugen zur Kontrolle des afghanischen Luftraums im November aufgeben.

Schicksalsjahr 2010

2010 könnte aus drei Gründen zum Schicksalsjahr für Afghanistan werden:

Die Stimmung im Land kippt. Die Bevölkerung sieht bei Sicherheit und Lebensstandard keine Fortschritte. Die Gefahr wächst, dass sie die westlichen Schutztruppen als feindliche Besatzer wahrnimmt. Schon jetzt ist die Unsicherheit groß, sich noch offen zu den westlichen Helfern zu bekennen oder sie gar zu unterstützen. Denn behalten die Taliban am Ende die Oberhand, werden sie sich an solchen "Kollaborateuren" und ihren Familienangehörigen grausam rächen.

Die Bedrohung eskaliert. Während früher einzelne Attentäter mit Sprengladungen am Leib oder im Auto Militärfahrzeuge oder Soldatengruppen angriffen, per Handy-Signal improvisierte Sprengfallen an Wegen gezündet oder aus alten russischen Artilleriegranaten gebastelte, wenig treffsichere Raketen abgefeuert wurden, bereiten jetzt taktisch geschulte "professionelle Terroristen" die Überfälle auf die ISAF vor.

Die erfahrenen Kämpfer sind aus inzwischen weitgehend befriedeten Krisengebieten wie Tschetschenien und dem Irak dazugestoßen und bedienen sich der vielen jungen Koranschüler aus dem pakistanischen Grenzgebiet als opferbereites "Kanonenfutter".

Die Müdigkeit der westlichen Demokratien wächst. Der angekündigte Abzug der Niederländer könnte bei den Alliierten einen Domino-Effekt haben. Nur mühsam bekommt die Nato die nötigen Truppen für die den USA versprochene Verstärkung der ISAF um weitere 7000 Mann zusammen. Auch Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle hat abgewinkt.

Das alles begreifen die westlichen Regierungen sehr wohl. Zugleich wird ihnen klar, dass ein Erfolg in Afghanistan nicht nach westlichen Maßstäben denkbar ist. Einen demokratischen Staat mit Gleichberechtigung von Mann und Frau und Verwaltungsstrukturen wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen wird es am Hindukusch niemals geben.

Was geschehen muss, klingt ungleich simpler, kostet aber viel Kraft und — vor allem — viel, viel Geld:

1.) Afghanisches Militär und die Polizei müssen schnellstmöglich stark genug werden, selbst für die Sicherheit im Land zu sorgen.

2.) Die Bevölkerung muss Zugang zu sauberem Trinkwasser, elektrischem Strom, einer medizinischen Grundversorgung und einer grundlegenden Schulbildung auch für Mädchen erhalten.

3.) Es müssen Zehntausende neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um einen bescheidenen Wohlstand zu ermöglichen.

Kann den Afghanen das Gefühl vermittelt werden, dass sie bei einer erneuten Herrschaft der Taliban viel zu verlieren haben, werden sie selbst mehr an einer Abwehr der islamistischen Terrorkämpfer interessiert sein. Ein Meilenstein für die Weiterentwicklung des Landes ist die internationale Afghanistan-Konferenz Ende Januar in London.

Da der Druck auf die westlichen Staaten zunimmt, spricht vieles dafür, dass sich dort etwas bewegen wird - hoffentlich jedoch nicht nach dem Muster des Irak: Nach kurzzeitiger Truppenverstärkung wurde die Sicherheitslage dort eifrig schöngeredet, damit ein Abzug der Koalitionssoldaten gegenüber den eigenen Bürgern gerechtfertigt werden konnte. Tatsächlich aber scheinen die Probleme des Irak bis heute ungelöst.

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