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Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts Kirchliches Streikverbot gelockert

Erfurt · Auch Kirchenmitarbeiter dürfen nach einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts unter bestimmten Bedingungen streiken.

Voraussetzung sei, dass der kirchliche Sonderweg mit dem Ziel eines einvernehmlichen Interessenausgleichs nicht zu eindeutigen Ergebnissen geführt habe, urteilte das Gericht am Dienstag in Erfurt. Die Entscheidung betrifft über 1,2 Millionen Arbeitnehmer vor allem von Caritas und Diakonie. (1 AZR 179/11 und 1 AZR 611/11)

Auf der Tagesordnung standen zwei Verfahren in diakonischen Einrichtungen der evangelischen Kirche in Westfalen, Niedersachsen und Nordelbien. In beiden Fällen hatten sich bereits die Landesarbeitsgerichte Hamm und Hamburg im vergangenen Jahr gegen ein generelles Streikverbot ausgesprochen.

Die höchsten deutschen Arbeitsrichter gaben damit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und der Ärztegewerkschaft Marburger Bund Recht, die zu Arbeitskämpfen in den Einrichtungen aufgerufen hatten. Der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts bestätigte zugleich das grundgesetzlich verankerte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen auch in arbeitsrechtlichen Fragen. Dieses sei unabhängig von der Nähe ihrer Mitarbeiter zum kirchlichen Verkündigungsauftrag, der Konfessionszugehörigkeit oder dem Ausmaß von Leiharbeit und Ausgliederung von Betriebsteilen, erklärte die Vorsitzende Richterin Ingrid Schmidt.

Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts betonte zugleich, das kirchliche Selbstbestimmungsrecht befinde sich nicht in einem rechtsfreien Raum. Hoch zu gewichten sei auch das Streikrecht. Ein Verbot von Arbeitskämpfen beeinträchtige zudem die Arbeit der Gewerkschaften und deren Mitgliederwerbung in einem erheblichen Maße. Dies gelte vor allem angesichts der Tatsache, dass die 1,3 Millionen Kirchenmitarbeiter "keine Randgruppe" seien.

In der Verhandlung hatten sich die Rechtsvertreter der Kirchen auf deren Selbstbestimmungsrecht berufen. Sie verteidigten den "Dritten Weg" der Kirchen und ihrer Einrichtungen. Mit dem Leitbild der "Dienstgemeinschaft" seien Streik und Aussperrung unvereinbar. Stattdessen suchten Dienstgeber und Dienstnehmer in paritätisch besetzten Kommissionen nach einem Interessenausgleich und schalteten notfalls Schlichter ein.

Die Vertreter von ver.di und Marburger Bund bezeichneten das Streikrecht als unverzichtbaren Bestandteil des grundgesetzlich festgeschriebenen Koalitionsrechts. Ohne Streikrecht sei die Interessenvertretung von Arbeitnehmern nur "kollektives Betteln". Zudem wandten sich die Gewerkschaften dagegen, dass die Kirchen eigenständig festlegen könnten, welche Einrichtungen in den Bereich ihrer Selbstbestimmung fielen. Dies sei Aufgabe der Gerichte.

Experten rechnen damit, dass das Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen noch das Bundesverfassungsgericht oder den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg beschäftigen wird. Die Gerichtspräsidentin wertete die Entscheidung deshalb als "Zwischenetappe von richtungsweisender Bedeutung".

Bisher sind bei den beiden großen christlichen Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden Diakonie und Caritas Streiks verboten. Dumpinglöhne und Leiharbeit im Sozialsektor waren aber vor allem der Diakonie vorgeworfen worden. Die Kirchen mit ihren Wohlfahrtsverbänden sind in Deutschland mit rund 1,3 Millionen Beschäftigten der zweitgrößte Arbeitgeber nach dem Staat.

Ver.di-Chef Frank Bsirske hatte den Kirchen im Vorfeld des Urteils die Missachtung von Grundrechten und vordemokratisches Verhalten vorgeworfen. Die Chefs von Caritas und Diakonie, Peter Neher und Johannes Stockmeier, verteidigten den Dritten Weg als gute Alternative zur üblichen Aushandlung von Tarifen. Neher verwies auch darauf, dass auch Beamte nicht streiken dürften; man könne also nicht von einem Menschenrecht sprechen.

(dpa/KNA)
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