Wesel "Der Krieg hat mich altern lassen"

Wesel · Noch nie in ihrem Leben hat Eva Becher eine Leiche gesehen – bis zum 17. Februar 1945. An diesem Tag sieht sie nicht nur einen Toten, sie sieht viele Leichen – karrenweise. Es ist der Tag nach dem verheerenden Angriff auf Wesel: Gemeinsam mit ihrem Vater sucht die 19-Jährige nach ihrem Großvater. Sie finden ihn unter Trümmern und graben ihn mit bloßen Händen aus. "Wir brachten ihn zum Friedhof, und dort sahen wir die vielen Opfer", sagt Eva Becher. Dann greifen Tiefflieger die Trauernden an. "Wir haben uns auf den Boden gedrückt und gehofft, dass es schnell vorbeigeht."

 Eva Becher (87) aus Wesel

Eva Becher (87) aus Wesel

Foto: Markus van Offern

Die 87-Jährige fragt sich heute noch manchmal, wie sie diese große Angst und diese Bilder verkraftet hat. Auch Jahre später schreckt sie auf, wenn sie ein Klopfen an der Tür hört. Denn im Mai 1945 wird ihre Familie von russischen Zwangsarbeitern überfallen. Sie hauen gegen die Tür, stechen auf ihren Vater ein. Später werfen sie ihn aus dem Fenster und misshandeln ihn brutal. Der Anführer sperrt Eva und ihre Mutter in den Keller ein. Dafür ist sie ihm bis heute dankbar. "Wer weiß, was sie uns sonst angetan hätten", fragt sie. Ihr Vater überlebt schwer verletzt.

Nach dem Abitur 1944 wird die behütete Tochter eines Autohändlers zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Sie kommt nach Thüringen. "In der Baracke, in der wir lebten, herrschten katastrophale hygienische Zustände, und es gab so wenig zu essen", so erinnert sie sich. In einer Munitionsfabrik arbeitet sie neben Kriegsgefangenen und KZ-Insassinnen. Eigentlich hatte sie geplant, Kunstgeschichte zu studieren. Stattdessen säubert sie Zünder für Panzergranaten. "Der Krieg hat uns unsere Jugend genommen."

Viele ihrer Freunde oder Brüder ihrer Freundinnen werden eingezogen. "Fast alle wurden uns weggeschossen", sagt die 87-Jährige. So wie Karl-Heinz, der Sohn einer Freundin ihrer Mutter. Er ist ein Jahr älter und für das Mädchen wie ein Bruder. Eines Tages bekommt sie in Thüringen Post: einen Feldpostbrief von Karl-Heinz und einen Brief von ihrer Mutter. Karl-Heinz' Brief, am 15. eines Monats abgestempelt, endet mit den Worten: "Ich muss Schluss machen – ein Angriff." Ihre Mutter schreibt, Karl-Heinz sei am 12. gefallen. "Wegen dieser drei Tage Unterschied konnte ich nicht glauben, dass er tot war", sagt Eva Becher. Später erfährt sie, dass man den Brief an sie in Karl-Heinz' Sachen gefunden und ihn erst nach seinem Tod an sie geschickt hat.

Der Krieg hat ihr Leben geprägt. "Er hat mich reifer gemacht, mich altern lassen", sagt Eva Becher. "Ich wurde sehr ernst." Sie ist noch keine 20 Jahre alt, als endlich der Frieden kommt. Noch lange haben Menschen, die sie nicht kennen, die junge Frau für älter gehalten – meistens etwa fünf Jahre, mindestens.

Sechs Jahre hat der Krieg gedauert.

(RP)
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