Psychiater im Prozess um Bahnsteig-Stoß in Voerde „Da kochte was, da brodelte was“

Duisburg · Ein psychiatrischer Gutachter sieht im Prozess gegen Jackson B., der eine junge Frau am Bahnhof Voerde vor einen einfahrenden Zug gestoßen haben soll, nur einen Ausgang des Verfahrens: die dauerhafte Unterbringung des 28-Jährigen in einer Psychiatrie.

 Der Beschuldigte soll nach dem Willen der Staatsanwaltschaft dauerhaft in die Psychiatrie. (Archivbild)

Der Beschuldigte soll nach dem Willen der Staatsanwaltschaft dauerhaft in die Psychiatrie. (Archivbild)

Foto: dpa/Marcel Kusch

Sein Vater sei ein schwerreicher Mann, sein Bruder verdiene jede Menge Geld als Pornodarsteller in den Niederlanden, er selbst habe ein Acht-Millionen-Erbe in Aussicht – all das erzählte Jackson B. Frank Sandlos, einem Facharzt für Forensische Psychiatrie. Der Psychiater hat den 28 Jahre alten Angeklagten für den Mordprozess am Landgericht Duisburg begutachtet. Vier Mal hat er B. im Gefängnis und später in einer psychiatrischen Klinik in Essen besucht und insgesamt sechs Stunden mit ihm gesprochen. „Er war zuerst sehr misstrauisch, unkonzentriert und verunsichert“, sagt Sandlos am Montag im Prozess. „Ein auffallend angespannter Mensch.“

Kostenpflichtiger Inhalt Jackson B. soll am 20. Juli vergangenen Jahres die 34-jährige Anja N. am Bahnhof Voerde mit voller Wucht vor einen einfahrenden Zug gestoßen haben. Dem Lokführer war es unmöglich zu bremsen, der Zug überrollte die Frau. Der Mordprozess wird als Sicherungsverfahren geführt. B. droht statt einer Haftstrafe die dauerhafte Unterbringung in der Psychiatrie, weil er zum Tatzeitpunkt psychisch krank war – davon geht die Staatsanwaltschaft aus. Gutachter Sandlos soll nun beurteilen, ob B. erheblich vermindert schuldfähig oder sogar schuldunfähig ist. Der Beschuldigte selbst hatte dem Gericht am ersten Prozesstag über seine Verteidigerin mitteilen lassen: „Mir tut das leid, dass die Frau gestorben ist.“ Er habe aber keine Erinnerung an die Tat. „Ich kann nur sagen, dass wenn ich das gemacht habe, ich das nicht extra gemacht habe“, hieß es in der Verteidigererklärung.

Dem Gutachter gegenüber hatte B. im Gespräch gesagt: „Ich habe das nicht gemacht. Sowas mache ich nicht.“ Immer wieder sagte er ihm, sein Kopf habe sich gedreht an jenem Morgen, die Wartenden am Gleis hätten ihn angesehen, weil er so geschwankt habe. Er hatte in der Nacht nicht geschlafen, war mit seinem Bruder in Düsseldorf feiern und trinken. Am Morgen wollte er von Voerde, wo der Bruder lebt, mit dem Zug nach Hause nach Hamminkeln fahren. Der Psychiater sagt, die Tat sei durch Alkohol- oder Drogenkonsum aber nicht erklärbar. „Er hatte schon vor der Tat aggressive Verhaltensweisen gezeigt“, sagt er.

Dreimal war B. schon in eine psychiatrische Klinik eingewiesen – und jedes Mal wieder entlassen worden. Ihm wurde seitens der Ärzte zwar empfohlen, zur Langzeittherapie in der Klinik zu bleiben, es gab aber nach Angaben von Sandlos offenbar keine Handhabe, ihn gegen seinen Willen festzuhalten – das geht nur, wenn eine Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt. „Sein Zustand hatte sich bei den drei Klinikaufenthalten jeweils rasch gebessert“, sagt Sandlos. Doch immer wieder fiel B. auf, weil er randalierte, sich nicht ans Gesetz hielt. „Da kochte was, da brodelte was“, sagt der Gutachter. Er hält es aber für nachvollziehbar, dass B. für die Ärzte sehr schwer einzuschätzen war. Die Merkmale seines „wahnhaft psychotischen Verhaltens“ seien offenbar nicht deutlich geworden.

B. hat sieben Vorstrafen wegen Betrügereien, Diebstahls und immer wieder wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Der reiche Vater, der Bruder, der im Pornogewerbe so erfolgreich sei, das Millionenerbe – nichts davon stimmt. Der Vater sitzt in Serbien im Gefängnis, weil er jemanden erschossen hat. Der jüngere Bruder lebt mit Frau und Kindern in Voerde. „Ich drehe keine Pornos“, stellt er im Prozess klar. „Mein Bruder war komisch drauf in der letzten Zeit. Paranoia, Verfolgungswahn, ich wusste nicht, was mit ihm los war.“

B. kann nicht lesen und schreiben, er hat eine Zeit lang eine Sonderschule besucht, eine geistige Behinderung hat er aber nicht, wie Psychiater Sandlos sagt. Er attestiert B. eine „undifferenzierte Schizophrenie.“ B. sei eine merkwürdige, skurrile Persönlichkeit. „Seine Schilderungen sind oft kaum nachvollziehbar, stellenweise widersprüchlich“, sagt Sandlos. So leugne B. zwar, Halluzinationen zu haben, erzähle dann aber etwa von seiner Frau, die komplett verkabelt sei. B. sei kaum in der Lage gewesen, Namen und Alter seiner neun Kinder zu nennen. „Gleichzeitig erzählt er, wie wichtig ihm die Familie ist“, sagt Sandlos.

Über die Tat sagt der Gutachter: „Es gibt dafür keine Erklärung.“ Die Tat sei allein auf das aggressive, zerstörerische Verhalten des Beschuldigten zurückzuführen. Was genau in Jackson B. vorging am Morgen auf dem Bahnsteig, und warum er die blonde Frau, die er noch nie zuvor gesehen hatte, ins Gleis stieß, wird im Dunkeln bleiben.

Sandlos sagt, die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten sei am Tattag „hochgradig eingeschränkt“ gewesen. Aus Sicht des Gutachters gibt es keine Alternative zur dauerhaften Unterbringung des Mannes in einer psychiatrischen Klinik. „Sein aggressives, unberechenbares Verhalten könnte sich weiter zuspitzen“, warnt er.

Am kommenden Dienstag wird das Gericht eine Entscheidung verkünden.

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