Autoren eröffneten Lesungsreihe der Jüdischen Kulturtage Lange Wanderung auf der Suche nach Heimat

Bis zu diesem Zeitpunkt kannten sie einander nicht; der eine hatte nicht einmal vom anderen etwas gelesen, aber dennoch wurde schnell klar, warum Oleg Jurjew und Vladimir Vertlib sich so gut eigneten, gemeinsam eine Lesung anläßlich der Jüdischen Kulturtage zu gestalten - obwohl sie beide auf ganz unterschiedliche Art schreiben, obwohl ihre Sozialisation sowohl als Mensch wie auch als Schriftsteller eine ganz andere ist.

Selbst wenn sie beide in Leningrad geboren sind - neben Moskau das kulturelle Zentrum des alten Russlands -, selbst wenn sie beide zunächst etwas gänzlich anderes gemacht haben - Vertlib hat Volkswirtschaftslehre studiert, Jurjew war Wirtschaftsmathematiker -, selbst wenn sie beide Juden sind, selbst wenn sie beide Emigranten sind, Vertlib schon als Fünfjähriger mit den Eltern, Jurjew 1990 und selbst wenn sie beide zu den Exil-Autoren gehören, sich längst einen festen Platz in der deutschsprachigen Literatur erobert haben. Was sie verbindet ist, ist die Zugehörigkeit zu "einer Schicksalsgemeinschaft" wie Vertlib sagt - aufgrund der Tatsache, dass sie mit deren Traditionen groß geworden sind.

Und gerade weil das ihr Leben auf so unterschiedliche Weise beeinflusst hat, öffnete der Lesungs- und Diskussionsabend in der Stadtbibliothek unter der Gesprächsleitung von Dr. Karsten Knipp das eine oder andere Fenster des in Deutschland immer noch mal mit scheuer, mal mit argwöhnischer Distanz betrachtete Haus "Jüdische Kultur". Vertlibs Eltern haben das Leben als russische Juden mit all seinen Ausgrenzungen im sowjetischen Russland nicht ausgehalten, sind zunächst 1972 nach Israel ausgewandert, doch weil sie dort das erwartete "ideale Land" nicht vorfanden, begaben sie sich mit dem kleinen Sohn auf eine mehrjährige Odyssee durch die ganze Welt.

Letztlich landeten sie in Österreich, wo Vladimir seit 1981 lebt. Jurjew hingegen ist als Erwachsener, als Vater eines dreijährigen Sohnes aus Russland emigriert, "aus einer Eingebung, einer Laune heraus", weil ihm klar wurde, dass der Nachwuchs dort keine Zukunft haben könnte. Und dennoch sind sich beide ihrer russischen Wurzeln bewusst und pflegen sie auch. Jurjew schreibt in russisch, erinnert sich gerne und witzig detailreich wie in seinem ersten Roman "Spaziergänge unter dem Hohlmond", der neu aufgelegt wurde und aus dem er an diesem Abend auch las, an die für uns skurrilen, für ihn damals normalen Alltäglichkeiten des Lebens; Vertlib hingegen, der seit 1981 in Österreich wohnt, schreibt und redet in (mit österreichischem Akzent gefärbten) Deutsch, sieht russisch als seine Muttersprache an, als seine "emotionale Sprache, die aber für die Arbeit nicht so gut handhabbar ist".

Seine Literatur ist geprägt von der jahrzehntelangen Wanderung auf der Suche nach einer Heimat, von den Erzählungen der Eltern über die alte Heimat, von den Traditionen einer jüdischen Familie. In der Kombination von erzählen aus dem Leben, lesen aus den eigenen Büchern und antworten auf die Fragen der Zuhörer (von denen leider viel zu wenige in der Stadtbibliothek waren), gab der Abend zwar kein rundes Bild, schon gar kein komplettes aber ein facettenreiches von jüdischen Schriftstellern, die ihre Zugehörigkeit mehr über die Traditionen eines Volkes definieren als über dessen religiöse Wurzeln.

Zwar drohte das Gespräch manchmal allzu sehr auszufransen, weil Knipp auch noch Möllemann und den Offenen Brief von FAZ-Herausgeber Schirrmacher zum neuen, der Öffentlichkeit noch völlig unbekannten Roman von Martin Walser ins Spiel brachte (was genug Stoff gleich für mehrere Abende wäre), aber sowohl Vertlib als auch Jurjew überzeugten auch da als souveräne, wohldurchdacht formulierende Partner. Überhaupt beeindruckten die beiden Autoren mit ihrer gelassenen und unaufgeregten Sichtweise, die sie zudem sehr prägnant in Worte zu kleiden wussten.

Zur wohl unvermeidlichen Frage nach der jüdischen Identität zum Beispiel: Er sei Jude und österreichischer Schriftsteller, erklärte Vertlib, nicht ohne sich darüber ein wenig zu amüsieren, dass er in deutschen Feuilletons schon alle möglichen Umschreibungen über sich lesen konnte - jüdisch-russisch, jüdisch-österreichisch, was die "Gesetze der Kombinatorik" so hergeben. Doch die Frage nach einer jüdischen Identität erübrige sich für ihn, weil er sich selbst ohne Judentum nicht denken könne. Und Jurjew meinte wohl ähnliches, als er sagte, dass er halt in einer großen jüdischen Gemeinschaft aufgewachsen sei; jüdisch zu sein habe für ihn ethnische, jedoch keine religiöse Bedeutung. Helga Bittner

(NGZ)
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