Neuss Unterwegs im Neusser Untergrund

Neuss · Es ist dunkel in dem Kanal unter der Stadt, die Lichtkegel der Taschenlampen reichen nicht weit, und genau umsehen möchte sich der Besucher im ersten Moment gar nicht. Denn schon aus dem Augenwinkel ist zu sehen, dass an den Betonwänden Hunderte Spinnen sitzen, reglos meist, nur aufgescheucht durch die Menschen, die gerade eindringen in ihr Reich.

Regelmäßig ist das der Fall, immer dann, wenn die Mitarbeiter vom Neusser Bauhof turnusgemäß die Regenwasserkanäle überprüfen. Denn am Boden dieser Kanäle sammeln sich Sedimente, es ist der Schlamm, den das Regenwasser übrig lässt, wenn es durch die Abwasserrohre rauscht. Deswegen werden die Kanäle gereinigt. Wann welches Rohr an der Reihe ist, entscheiden die Mitarbeiter der Stadtwerke-Tochter Infrastruktur Neuss nach Sichtproben. "Wir haben zwei Mitarbeiter, deren einzige Aufgabe es ist, die Kanäle zu kontrollieren", erläutert Wilhelm Heiertz, Technischer Leiter der Stadtentwässerung. Sie fahren durch Neuss und schauen durch jeden Gullideckel. Auf einem Tablet-Computer halten sie fest, in welchem Zustand sich der Kanal, den sie in etwa fünf Metern Tiefe sehen, befindet. "Das wird direkt in ein zentrales System eingespeist", erläutert Heiertz.

Nicht immer müsse eine Begehung folgen, in den meisten Fällen reicht es, ein Reinigungsfahrzeug einzusetzen, das über Hochdruckpumpen Schlamm und Dreck in den Kanälen durchspült und danach aus der Tiefe saugt. Auf der anderen Seite steht die gesetzliche Verpflichtung, innerhalb von 15 Jahren jeden Kanal der Stadt einmal komplett zu durchfahren. Und deswegen steht Heiertz nun im Dunkeln, in einem Kanal unter dem Stadtteil Reuschenberg. Um dort hinzukommen, ist der Ingenieur auf seine Mitarbeiter angewiesen. Denn jede Begehung muss vorbereitet werden, nur den Gullideckel hochzuklappen, reicht nicht aus.

Jeder, der in das Abwassersystem hinunter steigt, muss zunächst an Klaus Feige vorbei. Der Kanalarbeiter ist Sicherheitsbeauftragter, seit 20 Jahren schult er seine Kollegen darin, wie sie sich bei Notfällen verhalten sollen. Sein Leitspruch: "Keine Panik", bevor er erläutert, welche tödlichen Gase sich in den Abwasserrohren entwickeln können: Methan, Kohlendioxyd und Schwefelwasserstoff. Ersteres tötet, weil es Explosionen auslöst, die anderen beiden Gase sind Atemgifte. Außerdem könne noch Sauerstoffmangel auftreten, erzählt Feige, der an diejenigen, die nun "unter Tage" gehen, Selbstrettungsgeräte verteilt. Gefühlt wiegen die zwei Kilo, aber das muss aushalten, wer im Ernstfall Luft zum Atmen braucht. Die Bedienung: Lasche ziehen, und das Mundstück samt Nasenklammer und Gasschutzbrille fällt heraus. "Der Sauerstoff hält 20 Minuten", erläutert Feige. Laut Betriebsanleitung sind es fünf Minuten mehr — "aber die ziehen wir ab", sagt Feige. Denn auch ohne Panik geht die Atmung in Extremsituationen schneller, der Körper braucht mehr Sauerstoff. Daher auch noch einmal Feiges Warnung, ruhig zu bleiben im Ernstfall, sich zu besinnen, und auch daran zu denken, dass am Ein- und Ausstieg je ein Kanalarbeiter als Sicherungsposten eingesetzt wird, der Verletzte retten kann. Nach der Schulung geht es um die Kleiderfrage: Orange ist die Farbe der Wahl. Die Kanalarbeiter tragen schmutzabweisende Ganzkörperoveralls in Müllmann-Orange, dazu Stiefel. Außerdem werden Taschenlampen mit Starklicht ausgegeben. Dann folgt der Sicherungsgurt, denn jeder, der die schmalen Stufen durch den Gulli hinabsteigt, wird abgesichert.

Unten ist die Luft stickig und warm, aber ungefährlich. Regelmäßig piepst das Gasmessgerät einen hohen Ton zur Entwarnung, der Kontrollgang beginnt. Eine kleine Wasserrille strömt am Boden, vor zwei Tagen hat es heftig geregnet. Wie hoch das Wasser zu diesem Zeitpunkt gestanden hat, zeigen Ablagerungen an der Wand, so genannte Schwemmlinien. In dem mannshohen Kanal sind die etwa auf Brusthöhe zu sehen — 200 Liter pro Sekunde fließen in Spitzenzeiten durch das Rohr.

Bereits nach kurzer Strecke treffen die Männer um Wilhelm Heiertz auf die ersten Überreste der Regenschwemme am Boden, unter den Füßen schmatzen nun Schlamm und Wasser. Die feuchte, warme Luft sei es übrigens, die den Spinnen das Leben in der Dunkelheit so angenehm mache, erläutert Heiertz, der vorneweg stapft und dabei immer wieder beherzt die Spinnweben zur Seite schiebt.

Ratten gibt es in den Regenwasserkanälen auch — eine Plage sind sie aber eher in den Schmutzwasserrohren. Das Gemisch aus Fäkalien und Küchenabfällen, das über die Toiletten entsorgt wird, zieht die Tiere an. Bei den Sichtkontrollen der Kanäle werde aber stets darauf geachtet, ob Rattenkot zu sehen ist, erläutert Heiertz. Wenn das der Fall sei, werde Gift ausgelegt — zwei Mitarbeiter der Infrastruktur Neuss sind für diese Arbeit extra geschult worden.

Der Kanal macht einen Bogen, an dieser Stelle stauen sich die Sedimente am Boden, der Schlamm wird zunächst tiefer, nach der Ecke lassen die Sedimente nach, das Gehen fällt wieder leichter. Die Männer passieren mehrere Einstiegschächte, dort ist es lauter als an anderen Stellen, denn immer wenn oben ein Auto über den Gullideckel fährt, ist das Klappern unten im Kanal als Echo zu hören. Im gesamten Kanalnetz ist dieses Geräusch als Rumpeln wahrnehmbar, mal leiser, mal lauter, es schallt durch die mit den Taschenlampen nur schemenhaft beleuchteten Gänge, die in rotes Licht getaucht sind, weil die orangenen Overalls der Männer die Scheinwerfer reflektieren.

An den Seitenwänden des mannshohen Rohrs führen kleine Zuläufe das Regenwasser von oben in den Schacht, mit den Taschenlampen kontrollieren die Männer, ob diese Kanäle frei sind. Auf gut 200 Metern geht das so, bis der Ausstieg erreicht ist, der am Reuschenberger Regenrückhaltebecken liegt. Dort geht es wieder an den Sicherungsgurt, bevor die Sprossen nach oben erklommen werden dürfen.

Früher hätten die Männer nun ihre hölzernen Schieber holen müssen, um damit den Schlamm aus dem Rohr zu entfernen. Doch das hat sich seit einigen Jahren erledigt: Das Reinigungsfahrzeug ist bereits vorgefahren. Während die Männer hochsteigen an die frische Luft, wird der Schlauch mit den Hochdruckpumpen bereit gemacht, um abzutauchen ins Rohr. Dann wird gepumpt und gespült, bis der Kanal frei ist von Sedimenten. Ob die Spinnen das überleben, ist dahingestellt. Lebensraum aber haben sie genug: 840 Kilometer lang ist das Netz der Neusser Kanäle unter der Stadt.

(NGZ/rl)
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