Düsseldorfer Geschichten Düsseldorfs fleißigste Frau geht in Rente

Düsseldorf · Mehr als ein Vierteljahrhundert lang hat Mariye Kilic Hemden, Hosen und Jacken der Gerresheimer geflickt, gestopft und geändert. Jetzt hört sie auf. Denn sie hat wirklich genug getan.

 Frau Kilic näht die Hose einer Kundin um, inzwischen braucht sie dafür eine Brille. "Goldene Schere" heißt ihr Laden an der Benderstraße. Er war mehr als ein Vierteljahrhundert lang ihr zweites Zuhause, wo sie die meiste Zeit des Tages verbrachte.

Frau Kilic näht die Hose einer Kundin um, inzwischen braucht sie dafür eine Brille. "Goldene Schere" heißt ihr Laden an der Benderstraße. Er war mehr als ein Vierteljahrhundert lang ihr zweites Zuhause, wo sie die meiste Zeit des Tages verbrachte.

Foto: Hans-Juergen Bauer (hjba)

Der Laden, das ist eigentlich nur ein weiß getünchter Raum im Neonlicht, vielleicht 20 Quadratmeter, mit einer fensterlosen Teeküche, in der man sich kaum drehen kann.

 Der Arbeitsplatz von Frau Kilic. Die Nähmaschine ist alt. Aber sie funktioniert noch hervorragend.

Der Arbeitsplatz von Frau Kilic. Die Nähmaschine ist alt. Aber sie funktioniert noch hervorragend.

Foto: Hans-Juergen Bauer (hjba)

An den Kleiderstangen hängen die Änderungen auf zwei Etagen zum Abholen bereit, Hosen, Blusen, Kleider zurzeit, und im Winter sind es die schweren Jacken, Anzüge und Mäntel. Mariye Kilic muss immer einen abgegriffenen Stock mit Haken nehmen, um an die obere Reihe zu kommen, und muss sich trotzdem noch strecken.

 Garnrollen liegen griffbereit, um die Wünsche der Kunden zu erfüllen.

Garnrollen liegen griffbereit, um die Wünsche der Kunden zu erfüllen.

Foto: Hans-Juergen Bauer (hjba)

Sie ist ziemlich klein. Frau Kilic steht dann auf Zehenspitzen, und manchmal sieht es aus, als falle sie gleich um. Doch seltsamerweise ist sie noch nie umgefallen, in 26 Jahren nicht, seit sie die Schneiderei in der Benderstraße hat.

Meistens sitzt Frau Kilic ja auch an der Nähmaschine, einem alten Modell aus Gusseisen. Mit den neuen, automatischen kann sie sich nicht anfreunden, sagt ihr Sohn Firuz, der für sie übersetzt. Man darf das nicht missverstehen, ihr Deutsch ist gut. Seines allerdings ist besser, er ist hier aufgewachsen. Es ist eher ein Ritual. Wenn es offiziell wird, hilft der Sohn halt.

Firuz Kilic kümmert sich auch um den Verkauf der Schneiderei. Deshalb hat er zwei Zettel im Schaufenster aufgehängt, "Schneiderei zu verkaufen" steht sinnigerweise darauf, und Fotos vom Laden. Es hätten sich schon viele Interessenten gemeldet, sagt er, doch fast alle wollten nur den Laden haben und eben nicht die Schneiderei.

Die Gegend ist gut, Bäcker, Metzger, Buchladen, viel Laufkundschaft mit Geld, mittleres Bürgertum, dessen SUVs in der zweiten Reihe parken, Gerresheim eben, und die Miete ist auch nicht hoch. Aber Frau Kilic will 25 000 Euro für die Einrichtung und den Kundenstamm haben. Sie selbst hat vor 26 Jahren 40 000 Mark bezahlt, der Laden läuft, am Samstag stehen die Leute Schlange, um ihre Kleider abzuholen.

Frau Kilic sitzt hinter ihrer gleichmäßig ratternden Nähmaschine, das Nadelkissen mit einem Band am linken Arm befestigt, die Hände führen mit der traumwandlerischen Sicherheit einer automatisierten Bewegung den Kragen eines Hemdes. Sie sieht gar nicht hin. Auch ein anderer könnte sich — wie Frau Kilic — hier eine sichere Existenz aufbauen. Ihr Sohn aber glaubt nicht daran, dass einer den Laden übernimmt. Menschen wie seine Mutter gibt es eben nur selten.

Er macht HipHop, Rap-Musik und ist ziemlich erfolgreich damit. Seine Gruppe heißt "BTM-Squad", inszeniert sich als Straßengang. Der Junge aus Eller, der sich um seine Mutter sorgt, macht hier auf Ghetto, "Friss oder Stirb" heißt ein Song und "Meine Kugeln": "Alter, weißt du, wer ich bin/ Wir stürmen deine Party, dann weißt du, wer wir sind/ Schaffe tanzend den Beat/ Düsseldorf ist die Hood, NRW schießt."

Die Schneiderei wäre nie für ihn infrage gekommen. "Nein, wirklich nicht." Er lacht, nicht aus Belustigung über die kleine, bürgerliche Existenz, wie man meinen könnte, sondern, weil er weiß, dass die Aufgabe ihn überfordern würde. Für ihn sind die Fußstapfen der Mutter zu groß.

Mariya Kilic kommt aus Adana, der fünftgrößten Stadt der Türkei mit mehr 1,5 Millionen Einwohnern. Ihr Vater starb früh an Krebs, sie hat noch acht Geschwister. Anfang der Siebziger redeten in Adana alle von Deutschland, dass man dort Geld verdienen könne, dass es dort besser sei. Gegen den Willen ihrer Familie machte sie sich auf den Weg. Am 22. November 1972 kam sie mit dem Zug in Frankfurt an, dann weiter nach Poppenhausen, ein Kaff in der Rhön. Dort schneiderte sie zunächst Uniformen für die Bundeswehr. Irgendjemand von den Männern sagte damals, dass Düsseldorf das Paris von Deutschland ist, außerdem hatte sie eine Freundin in der Stadt. "Ich bin einfach gefahren", sagt sie.

Als sie zum ersten Mal in den Düsseldorfer Karneval geriet und ein Mann sie küssen wollte, schlug sie ihn zu Boden. Es tut ihr immer noch leid, aber sie kannte das eben nicht. Sie erzählt sie gern, diese Geschichten ihrer Ahnungslosigkeit, als Fremde in einem fremden Land — bei Frau Kilic hören sie sich an wie ein lustiges Abenteuer. Wunderschön war es, sagt sie, alles. Sie lacht laut und ansteckend und herzlich, so dass man ihr beinahe glaubt.

Eine Kundin kommt in den Laden, Frau Kilic unterbricht ihre Arbeit an der Nähmaschine, um zu bedienen. Es geht um eine Bluse, die einen Stehkragen bekommen soll, Frau Kilic erklärt, was sie machen muss, und, dass die Bluse am Dienstag fertig sei. Das Ganze dauert keine Minute. Frau Kilic versteht sehr schnell, was ihre Kunden wollen. Deshalb kommen sie nicht nur aus Düsseldorf, sondern auch aus dem Umland und sogar dem Ruhrgebiet zu ihr. Manchmal ist es schwer den zugesicherten Termin einzuhalten, aber meistens schafft sie es dann doch, sagt sie. Eigentlich immer. Die Nähmaschine rattert wieder.

Frau Kilic war verheiratet. Ihren Mann lernte sie bei einem Steuerberater kennen, der türkisch sprach und sein Büro in der Bahnhofsgegend hatte. Eigentlich hatte sie das Viertel immer gemieden, aber nun musste sie nun einmal dahin. Sie zeigte dem Steuerberater ihre Belege, Einkommensnachweise, Rechnungen, und der fragte, wovon sie denn eigentlich hier lebe? Frau Kilic schickte fast ihren gesamten Lohn in die Türkei, um so ihrer Familie zu helfen. Ob sie denn nicht verheiratet sei, fragte er auch, doch Frau Kilic sagte, dass ihn das nichts angehe und er sich um seinen eigenen Kram kümmern solle. Das wiederum gefiel einem anderen Mann im Büro des Steuerberaters. Den sollte sie heiraten. Frau Kilic hat es ihm leichtgemacht. Erst nachdem er ihr vier Jahre lang den Hof gemacht hatte, feierten sie ihre Hochzeit in der Türkei.

Ein junger Mann kommt ins Geschäft, fragt, ob es möglich sei, seine Hose zu flicken. Frau Kilic erklärt, dass sie nicht genau den Farbton treffen könnte, und dass es auch bis Dienstag dauere. "Aber sie dürfen nicht schimpfen", sagt sie. "Auf gar keinen Fall", sagt der Mann und gibt die Hose ab.

1999 verstarb Herr Kilic mit 53 Jahren. Eine Zyste an der Leber sollte ihm entfernt werden, ein Routineeingriff, die Operation lief schief, 22 Tage danach war er tot. Firuz Kilic ist davon überzeugt, dass die Ärzte Mist gebaut haben, er wollte die Klinik verklagen, wollte Aufklärung, doch seine Mutter wollte all dies nicht. Sie begrub ihren Mann, machte weiter den Laden, kümmerte sich um ihre Kinder, schickte Geld in die Türkei. Vielleicht war dies die schwerste Zeit. Zu sagen, dass Frau Kilic viel arbeitete damals, wäre eine maßlose Untertreibung. Sie stand um drei Uhr am Morgen auf, machte den Haushalt, kochte, wusch, sorgte dafür, dass die beiden Kinder sich anzogen, frühstückten und in die Schule gingen. Dann ging sie ins Geschäft, putzte dort, setzte sich an die Nähmaschine und öffnete immer pünktlich um 9.30 Uhr. Um halb sieben schloss sie den Laden, griff sich die Handarbeiten und fuhr nach Hause. Sie machte Essen, brachte die Kinder ins Bett und nähte bis 22 Uhr. Das war ihr Tag von Montag bis Freitag, das Wochenende brauchte sie, um die Termine einzuhalten.

Der Sohn zog irgendwann nach Flingern, die Tochter heiratete und zog in die Türkei. Frau Kilic nutzte die gewonnene Zeit um mehr Hosen zu flicken, um Löcher zu stopfen, um Ärmel zu kürzen und Mäntel umzuarbeiten. 2011 änderte sich ihr Tagesablauf, weil die Ärzte bei Frau Kilic eine Krebserkrankung feststellten: Sie putzte nun bereits am Abend den Laden, weil sie morgens ja zur Chemotherapie und zur Bestrahlung musste. Die Kunden merkten nichts. Sie weiß noch nicht, wie es weiter geht, wenn der Laden tatsächlich schließt. In der Türkei hat sie ein Mehrfamilienhaus. Hauptsächlich wohnen Verwandte darin — mietfrei — wie ihr Sohn sagt, doch auch für Frau Kilic ist eine Wohnung frei. Sie wird pendeln zwischen Adana und Düsseldorf, Sport will sie treiben, lesen. "Es ist genug", sagt Frau Kilic, 67 Jahre alt, Schneiderin. Eine Frau will eine graue Jacke abholen, Frau Kilic muss sich wieder auf die Zehenspitzen stellen. Die Kundin probiert vor dem Spiegel. "Und, passt", fragt Frau Kilic. "Perfekt", sagt die Frau.

(RP)
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