Wie Eltern richtig reagieren Hilfe, mein Kind flippt aus!

Düsseldorf · Trampeln, Türen knallen, sich schreiend auf den Boden werfen - solche Szenen kennen alle Eltern und ebenso die nagende Frage: Ist das noch normal? Wir haben Experten gefragt und auch, wie man richtig reagiert.

 Wenn Kinder wütend sind, sind sie oft regelrecht außer Kontrolle. (Symbolbild)

Wenn Kinder wütend sind, sind sie oft regelrecht außer Kontrolle. (Symbolbild)

Foto: Shutterstock/Ana Muraca

Nico kreischt so laut, dass einem das Trommelfell zerbersten könnte. Er wirft seinen Kopf hin und her, schlägt mit den Fäusten auf die Tischkante. Die Zornesröte steht dem Vierjährigen im Gesicht. Wutattacke - aus dem Nichts.

Eigentlich wollte die Familie Abendbrot essen. Daran ist nun nicht mehr zu denken. Die Eltern verstehen nicht einmal, was passiert ist. Dabei gab es keinen ersichtlichen Anlass für den Ausraster. Erst viel später, als der Vierjährige schlafen geht, stellt sich heraus: Er wollte sein Brot selber schmieren. Aber Papa hat es gemacht.

Solche Situationen fordern Eltern stark heraus. Zwar wünschen sie sich mit Gelassenheit und Ruhe zu reagieren, meist aber passiert genau das Gegenteil: Man wird hektisch und laut - am Ende wird vielleicht sogar bestraft. Denn eins soll dem Nachwuchs gleich deutlich werden: Wutausbrüche sind inakzeptabel und unerwünscht.

Dabei gehört Wut zur emotionalen Grundausstattung eines jeden Menschen. Auch Erwachsene kennen das Brodeln im Innern. Sie haben jedoch gelernt, damit umzugehen. „Kinder hingegen nicht. Sie können Emotionen noch nicht gut regulieren“, sagt Maria Bushuven, Sozialpädagogin, Psychotherapeutin und Familientherapeutin des Katholischen Beratungsdienstes für Erziehungsfragen in Krefeld. Besonders in der Trotzphase zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr mutieren Kinder darum von jetzt auf gleich zum Rumpelstilzchen.

Einen besonderen Anlass muss es dafür nicht einmal geben. „Kinder werden wütend, weil sie müde sind, reizüberflutet oder Hunger haben“, sagt Ulric Ritzer-Sachs, Sozialpädagoge der Onlineberatung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke). Es reichen Aufforderungen zu alltäglichen Aufgaben wie Zähne putzen oder schlafen gehen. Die Kinder erleben Autonomie und beginnen selbst Entscheidungen zu treffen, sagt Bushuven. Manchmal stoßen sie jedoch an Grenzen und werden wütend. So können Banalitäten Situationen zum Eskalieren bringen.

Der Grund für den Wutanfall verändert sich dann mit vier bis fünf Jahren: In diesem Alter geht es oft darum, dass jemand etwas vom Kind möchte, das es selbst nicht will. „Kinder in dem Alter haben aber noch keine gute Reaktionskontrolle“, sagt der Experte. Darum rasten sie aus. Grundsätzlich sollten Kinder im Alter von rund zwölf Jahren über das nötige Handwerkszeug verfügen, Emotionen wie Wut unter Kontrolle zu bekommen“, sagt Bushuven. Schon ab dem Grundschulalter sollten Kinder jedoch verstanden haben, dass „Wut als Kommunikationsmittel nicht reicht“, sagt Sinzig.

Unterscheiden sollte man Wutanfälle zudem von Impulsivität und deutlich oppositionellem sowie verweigerndem Verhalten. Schränke dies den Alltag permanent ein, rät die Kinder- und Jugendpsychiaterin dazu, sich professionellen Rat einzuholen und beispielsweise ADHS als Ursache auszuschließen.

Unabhängig vom Alter können jedoch Faktoren wie Überforderung, Frust oder Ablehnung zu Wutausbrüchen führen, erklärt Judith Sinzig, Chefärztin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der LVR-Klinik Bonn. Auch Mangel an Beachtung oder etwa starke Traurigkeit - beispielsweise wenn Eltern sich trennen oder Nahestehende sterben - können Wut auslösen. Dennoch ist die Neigung zu Wutanfällen nicht nur eine Frage des Temperaments.

Biologen haben herausgefunden, dass die Amygdala, der Teil des Gehirns, der für die emotionale Regulation in Stressmomenten oder Gefahrensituationen zuständig ist, bei manchen Menschen größer ist als bei anderen. Von der Größe scheint abhängig zu sein, wie empfindlich man auf äußere Reize reagiert. Eine große Amygdala kann dafür verantwortlich sein, dass ein Mensch heftiger auf äußere Reize reagiert.

Auch der sogenannte Vagusnerv spielt bei der Regulation von Emotionen eine entscheidende Rolle. Er gilt als wichtigster Nerv des vegetativen Nervensystems und verzweigt sich vom Hirn ausgehend durch den ganzen Körper. Der Vagusnerv transportiert Emotionen vom Gehirn in den restlichen Körper und umgekehrt auch Signale aus dem Körper ins limbische System - also die Hirnregion, die für die Verarbeitung von Gefühlen zuständig ist. Aus diesem Grund forschen Neuropsychologen beispielsweise an den Möglichkeiten, um depressiven Menschen über eine Stimulation des Nervs zu helfen.

Nutzen lasse sich das Wissen um den Vagusnerv auch, um von seinen Gefühlen übermannte Kinder wieder zur Ruhe zu bringen, schreibt Fachautorin Nora Imlau in ihrem Buch „So viel Freude, so viel Wut“. Besonders bei gefühlsstarken sehr emotional reagierenden Kindern seien darum körperliche Signale wie zum Beispiel zärtliche Berührungen und in den Arm genommen zu werden wichtig. Über die körperliche Berührung laufen Entspannungssignale ins Hirn. Erregte Nervenzellen beruhigen sich wieder.

Auch Erziehungsberater halten körperliche Zuwendung für ein gutes Mittel, um bei aufgebrachten Kindern den Wutpegel zu senken. Manchmal tun sich Eltern genau damit schwer. Denn sie sind oft selbst aufgebracht und haben zudem Sorge, das Kind könne daraus lernen: „Auf Wut folgt Zuwendung“ - und somit die Ausraster fördern. Warum Zuwendung auf Wut aber dennoch eine adäquate Reaktion ist, erklärt Ritzer-Sachs so: „Dem Kind geht es im Moment seines Emotionsausbruchs nicht gut. In den Arm genommen zu werden, hilft ihm, aus der Situation wieder herauszukommen.“ Alleine würde es dem Kind meist nur schwer gelingen.

Was Eltern noch tun können, um sich in eskalierenden Situationen richtig zu verhalten:

  • 1. In der akuten Situation geht es zunächst vorrangig darum, den Prozess zu stoppen: „Erziehen und darüber sprechen kann ich nachher“, sagt Ritzer-Sachs. Im Wutanfall zu diskutieren oder nach dem Warum zu fragen, ist sinnlos. Wenn überhaupt können Kinder meist erst mit zeitlicher Distanz Gründe für ihr Verhalten nennen.
  • 2. Auf den Countdown verzichten: „Ich zähle jetzt bis drei. Wenn du nicht aufhörst, dann…“ - Solche Aussprüche kommen meist aus der eigenen Hilflosigkeit heraus. Sie bewirken, dass die Wut des Kindes verstärkt wird, sagt Ritzer-Sachs. Der Grund: Man droht dem Kind, statt ihm in einer für es selbst nicht beherrschbaren Situation zu helfen. Besser wäre es, den Spross in den Arm zu nehmen oder abzulenken.
  • 3. Beruhigend wirken: In Momenten, in denen Kinder ausrasten, wächst auch in den Erwachsenen meist die Anspannung. Das kann dazu führen, dass Eltern emotional reagieren, hektisch werden, ungehalten und laut. Doch die eigene emotionale Reaktion kann die emotionale Intensität beim Kind erhöhen, schreiben die amerikanische Sozialarbeiterin Pat Harvey und die Lehrerin Jeanine A. Penzo in ihrem Buch „Hilfe, mein Kind rastet aus“. Wem es gelingt, trotz des Wutausbruchs seines Kindes selbst kontrolliert und ruhig zu bleiben, der kann meist den Gefühlsausbruch des Nachwuchses schneller beenden.
  • 4. Überraschung hilft: Tun Sie etwas, mit dem das Kind nicht rechnet. Das wird es derart verdutzen, dass es sehr schnell seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes als die Wut lenkt. „Singen Sie ein Lied oder setzen sie sich an der Supermarktkasse auf den Boden“, sagt der Experte der bke. Wichtig dabei: Tun Sie etwas, das zu ihnen passt. Nur dann sind Sie damit überzeugend.
  • 5. Alternativen zeigen: Wut braucht ein Ventil. Hefen Sie Ihrem Kind, indem Sie ihm zeigen, wie es seine Emotionen auch auf andere Weise loswerden kann: Zerfetzen Sie gemeinsam eine Zeitung oder reagieren Sie sich am Boxsack ab, raten die Erziehungsexperten. Hilfreich ist es, das gemeinsam zu tun. Damit signalisieren die Eltern, dass sie das Kind nicht in einer misslichen Lage allein lassen und pegeln ihre eigenen Emotionen ebenfalls herunter.
  • 6. Verzichten Sie auf Bestrafung: Oftmals sind Kinder wütend, weil sie das Gefühl haben, nicht gesehen zu werden. In einer solchen Situation Strafen auszusprechen, macht das ohnehin ohnmächtige Kind noch hilfloser. Angemessen können Konsequenzen hingegen sein, wenn Kinder jedes Maß überschreiten und beispielsweise Gegenstände zerstören.
  • 7. Belohnen Sie Wut nicht: Zu den Klassikern zählt der Ausraster an der Supermarktkasse, weil der Nachwuchs etwas Süßes will. Falsches Signal: Schnell etwas Leckeres kaufen, damit die angespannte Situation in der Öffentlichkeit aufhört, sagt Bushuven. Bessere Lösung: In ruhigem Ton sagen, dass man noch was Süßes zu Hause hat und wenn der Einkauf jetzt schnell beendet werden kann, dort etwas Leckeres wartet.

Geraten Eltern zunehmend an ihre Grenzen oder tun sich Fragen auf, raten die Experten dazu, sich an eine der zahlreichen kostenlosen Elternberatungsstellen zu wenden. Häufig sind diese bei den Kommunen oder kirchlichen Trägern wie Caritas oder Diakonie zu finden. Das Jugendamt der Stadt hat in der Regel einen Überblick über die Angebote vor Ort. Daneben bietet die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung eine kostenlose Onlineberatung an.

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