Jugendliche sitzen so viel wie 60-Jährige Macht Sitzen Kinder dumm?

Düsseldorf · Bewegungsmuffel fallen nicht nur im Sportunterricht auf. Wenn Kinder viel sitzen, beeinträchtigt das auch ihre geistige Beweglichkeit. Ärzte schlagen Alarm.

 Orthopädisch nicht optimal: Kinder surfen im Internet und spielen mit dem Smartphone.

Orthopädisch nicht optimal: Kinder surfen im Internet und spielen mit dem Smartphone.

Foto: Shutterstock/Prostock-studio

Balancieren, Klettern, Springen - für Kinder sollte das kein Problem sein - denken die meisten. Doch in der Realität bereitet es laut Experten vielen Kindern Probleme. 35 Prozent der vier- bis 17-Jährigen gelingt es beispielsweise nicht, auf dem Balken einer umgedrehten Schulbank rückwärts zu gehen. Wenig körperlich aktive Kinder stehen vor einer Herausforderung, wenn sie aus dem Stand springen oder auf einem Bein stehen sollen.

Bei Teenagern gehört Bewegungsmangel längst zum Alltag: 19-Jährige sitzen so viel wie über 60-Jährige, legte eine Studie der Hopkins Bloomberg School of Public offen. Mehr als 25 Prozent der Jungen und 50 Prozent der Mädchen im Alter von sechs bis elf Jahren und mehr als 50 Prozent der männlichen und 75 Prozent der weiblichen Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren erfüllen demnach nicht einmal die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die liegt bei einer Stunde Bewegung am Tag.

Das hat Folgen: Bei Kindern und Jugendlichen nehmen nicht nur körperliche Probleme wie Übergewicht zu. Aus Tierexperimenten weiß man, dass sich Inaktivität auch nachteilig auf das Gehirn auswirkt, sagt Alexander Woll, Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Macht man Mäusen Bewegung unmöglich, werden sie mit der Zeit unaufmerksamer. Außerdem können sie komplexe Aufgaben schlechter lösen. Auch beim Menschen weiß man laut des Experten aus zahlreichen Untersuchungen, dass es Zusammenhänge zwischen körperlicher und geistiger Aktivität gibt.

In einer groß angelegten Schulstudie beobachtete der Forscher, dass nach dem Einrichten einer täglichen Sportstunde die schulische Leistungsfähigkeit zunahm, das Aggressionsverhalten sank und das Sozialverhalten besser wurde.

2012 kamen niederländische Forscher in einer Metastudie zu dem Schluss, dass sich durch Bewegung schulische Leistung verbessern könne. Verschiedene Studien der Karlsruher Arbeitsgruppe zeigen, dass vor allem die Aufmerksamkeit und das Arbeitsgedächtnis der Kinder von gezielten Bewegungsprogrammen profitieren.

Finnische Wissenschaftler fanden bei der Untersuchung von über 8000 jungen Erwachsenen heraus, dass die körperliche Fitness die Wahrscheinlichkeit für gute Noten im späteren Leben beeinflussen könnte. Demnach hatten Teenager, die im Alter von 16 Jahren motorisch geschickt waren, tendenziell bessere Noten als ihre übergewichtigen Altersgenossen. Allerdings warnt Woll vor falschen Rückschlüssen aus solchen Forschungsergebnissen: „Bewegungsunfreudige Kinder sind nicht dümmer.“ Es zeige sich jedoch, dass bewegungsfreudige Kinder bessere Voraussetzungen beim Lernen haben.

Von Geburt an ist Bewegung darüber hinaus ein wichtiger Entwicklungsfaktor: Bei Kleinkindern lasse sich beobachten, wie wichtig die motorische Förderung für die Hirnentwicklung ist, sagt Woll. Jede Bewegungsaufgabe sei automatisch eine kognitive Aufgabe. Wenn ein Kind über einen Baumstamm klettern wolle, müsse es darüber nachdenken, wie es dies anstellt. Das trainiere die motorischen wie kognitiven Fähigkeiten gleichermaßen. Kinder lernen demnach besser durch körperliche Aktivität.

Sie können sich laut Woll besser konzentrieren und lassen sich seltener ablenken. Zwei Gründe dafür: Die Hirndurchblutung ist bereits unter leichter Bewegung wie zum Beispiel einem kleinen Spaziergang um zehn bis zwanzig Prozent besser. Dadurch werden wie alle Körperzellen auch die Hirnzellen besser mit Sauerstoff versorgt. Zudem werden unter körperlicher Aktivität Wachstumshormone im Hirn ausgeschüttet, die die Neubildung von Neuronen im Hirn und die Verbindung neuer Nervenzellen aktiv fördern.

Bewegungsarmut hingegen ist Wolls Hypothese nach einer der Risikofaktoren für psychische Erkrankungen. Selbst Symptome der Aufmerksamkeitsstörung ADHS lassen sich demnach durch körperliche Aktivität positiv beeinflussen.

Angesichts der vielen positiven Effekte sind Forscher durch die Bewegungslosigkeit junger Menschen alarmiert. Mehr als drei Stunden täglich verbringen Kinder vor Fernseher, Handy oder Tablet. Lediglich ein Drittel der unter Sechsjährigen bewegt sich 60 Minuten am Tag. Zwischen dem sechsten und 18. Lebensjahr halbiert sich laut Woll diese Bewegungszeit nochmal. Auch in Zukunft werden sich Kinder seiner Einschätzung nach immer weniger bewegen und immer mehr mit dem Internet beschäftigen. Das wird die Lage weiter zuspitzen. Aus diesem Grund betrachtet Woll die durch die Bundesregierung geförderten Kampagnen zur Digitalisierung von Schulen kritisch. „Die Digitalisierung kommt von alleine. Dennoch gibt die Regierung Milliarden dafür aus.“ Ein Konzept für die Folgen der Digitalisierung im Bewegungsbereich gebe es hingegen nicht.

„Bei den Elfjährigen sind die Eltern der wichtigste Einflussfaktor“, sagt Woll. Damit Kinder sich wieder mehr bewegen, rät er: „Eltern sollten mit gutem Beispiel voran gehen.“ Wer selbst lieber mit dem iPad auf der Couch sitzt, wird seine Kinder nicht zum Radfahren oder Fußballspielen bringen. Als Familie zum Beispiel gemeinsam schwimmen zu gehen oder kurze Wege zu Fuß zurückzulegen, motiviert dazu, es auch alleine zu tun – im besten Fall ein Leben lang.

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