Umstrittene deutsche Stärke

Berlin versagt angeblich in der Schuldenkrise. Doch die Analyse überzeugt nicht.

Wird 2016 das Jahr der Streitschriften? Die Neuerscheinungen des Jahres deuten dies zumindest für zwei Bereiche an: die Medienkritik und die Europapolitik. Allein im Beck-Verlag sind dazu jetzt mehrere Bücher erschienen. Offensichtlich haben die Entwicklungen der Vorjahre dazu angeregt: die Eurokrise, die Krimkrise, die Asylkrise.

Beispielhaft für die Europapolitik steht Hans Kundnani, Mitarbeiter des German Marshall Funds, der über "German Power. Das Paradox der deutschen Stärke" schreibt. Sein Buch ist 2015 in Großbritannien und jetzt auf Deutsch erschienen. Seine sechs Kapitel umfassen einen längeren historischen Rückblick und die eigentliche Streitschrift am Schluss mit etwa 55 Seiten.

Im Kern geht es ihm um Deutschlands heutige wirtschaftliche Stärke, die zu einer halbhegemonialen Stellung Berlins in Europa geführt habe und Hauptgrund nicht nur für die Euro- und Schuldenkrise, sondern auch für die unzureichende und spaltende Handhabung der Krim- und Asylkrise sei. Zwar werde es nicht zu einem "deutschen Europa" kommen, aber zu mehr Chaos, weil sich die Deutschen weigerten, die Schulden- und Haftungsunion mit Eurobonds auszubauen.

Kundnani führt als Vorbild die frühen USA an, die unter Präsident Jefferson die Schulden vergemeinschaftet hätten. Allerdings erwähnt er nicht, dass damals eben nicht einige Bundesstaaten die Schulden der anderen Bundesstaaten übernommen haben, sondern der neue Gesamtstaat, den es in Europa nicht gibt. Hier würde jede weitere Ausweitung einer Transferunion zulasten weniger Nettozahler gehen, wobei Deutschland am stärksten betroffen wäre. Wieso dies sinnvoll wäre und vor allem, was dies bringen würde, lässt er offen. Im Übrigen trifft der Ausdruck "Hegemon" trotz seiner jüngsten Beliebtheit weniger die Sache als der Begriff der "dominanten Ökonomie", der in Frankreich gern benutzt wird.

Meistzitierter Autor Kundnanis ist der bekannte Historiker Heinrich August Winkler, aber auch Jürgen Habermas, George Soros und Joschka Fischer werden berücksichtigt. Dies gilt nicht für Autoren wie Herfried Münkler, Michael Hüther oder Martin Winter, die in jüngster Zeit die Europadiskussion in Deutschland geprägt haben. Auch wirtschaftspolitisch fußt die Arbeit ausschließlich auf den US-Keynesianern Paul Krugman und Joseph Stiglitz, während deutsche Ökonomen wie Hans-Werner Sinn allenfalls am Rande vorkommen.

Das Buch wäre in Deutschland wohl nicht erschienen, hätte nicht Winkler "den Anstoß gegeben". Der rühmt das Büchlein als "brillant mit einer außergewöhnlich scharfsinnigen Analyse". Doch das ist es nicht. Brendan Simms, der auch in Deutschland bekannte irische Historiker, bezeichnet es als lesenswert für "Meinungsmacher und Politiker", und das kommt dem Ganzen viel näher. Das Buch bietet einen Steinbruch, um die Berliner Europapolitik anzugreifen. Empfehlenswerter ist da Simms' neues Plädoyer für die "Vereinigten Staaten von Europa" mit dem Titel "Europa am Abgrund", zum gleichen Zeitpunkt im selben Verlag erschienen. Das bietet nun gerade aus linker Sicht eine interessante Analyse der gegenwärtigen Situation, auch wenn seine konkreten Vorschläge eher unrealistisch erscheinen. Das US-Modell, aus vielen Kleinstaaten einen Superstaat zu machen, trifft ja nicht nur in Großbritannien immer mehr auf Widerspruch.

(RP)
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