Analyse zu ThyssenKrupp Ein Ruhrkonzern geht in die Knie

Essen · ThyssenKrupp meldet erneut einen Milliardenverlust. Außerdem muss Konzernchef Heinrich Hiesinger Teile seines Konzernumbaus rückabwickeln. Damit wird er erstmals mitverantwortlich für das Desaster.

Analyse zu ThyssenKrupp: Ein Ruhrkonzern geht in die Knie
Foto: dpa, Federico Gambarini

Heute — die schlimmen Nachrichten des Wochenendes haben sich gesetzt — drängt die Frage nach der Schuld in den Vordergrund: ThyssenKrupp geht es schlecht. Vielleicht sogar schlechter denn je. Ist dafür wirklich nur der alte Vorstand verantwortlich, der den einst so stolzen Ruhrkonzern mit einem gescheiterten Stahlwerksbau in Brasilien an den Rand des Ruins getrieben hat? Dem im Rückblick viele Größenwahn nachsagen? Der bei ThyssenKrupp ein Betriebsklima der Ohnmacht erzeugt hat, des Wegsehens, der "Seilschaften und der blinden Loyalität", wie der neue Konzernchef Heinrich Hiesinger dem alten Vorstand hinterher- ruft?

 Der Vorstandsvorsitzende Heinrich Hiesinger (r.) und der Aufsichtsratsvorsitzende Ulrich Lehner.

Der Vorstandsvorsitzende Heinrich Hiesinger (r.) und der Aufsichtsratsvorsitzende Ulrich Lehner.

Foto: Endermann, Andreas

Oder hat auch Hiesinger selbst zu dem Desaster beigetragen, das immer größere Dimensionen annimmt, wie an diesem Wochenende deutlich wurde? Denn so neu ist der neue Chef ja gar nicht mehr. Der 53-Jährige steht seit fast drei Jahren an der Spitze. Er wird geliebt. Von der Börse, von den 150 000 Mitarbeitern, von den Investoren und den Journalisten. Weil er Klartext redet. Weil er der Unternehmenskultur bei ThyssenKrupp den Kampf angesagt hat. Diesem Paralleluniversum, in dem bis vor kurzem noch allen Ernstes von "Baronen", "Landesfürsten" und "Statthaltern" die Rede war. Alle lieben den Bauernsohn, der gerne von seiner arbeitsreichen Kindheit auf dem Land erzählt und der heute rund um die Uhr gegen den Untergang von ThyssenKrupp anschuftet. Aber mit welchem Ergebnis? Kann er die desolate Lage des Konzerns auch nach fast drei Jahren an der Spitze immer noch mit den Fehlern seiner Vorgänger rechtfertigen?

Samstagnachmittag legte er die Bilanz des abgelaufenen Geschäftsjahres vor. Schon der Termin sprach Bände: Zweimal musste Hiesinger die Konferenz verschieben, zuletzt noch in der Nacht zu Samstag.

In einem gespenstisch menschenleeren Essener Hauptquartier verkündete der ehemalige Siemens-Vorstand dann den neuen Milliardenverlust: 1,5 Milliarden Euro hat der Konzern im abgelaufenen Geschäftsjahr unter dem Strich verbrannt — vier Millionen Euro pro Tag. Und das nach einem Minus von fünf Milliarden Euro im Vorjahr. Weil im Vorfeld der schlechten Nachrichten des Samstages auch eine positive durchgesickert war, hatten viele Beobachter einen "Befreiungsschlag" erwartet. Diese Erwartung räumte Hiesinger erst einmal ab: "Befreiungsschläge kann man sich wünschen. Aber es gibt sie nicht", stellte er gleich zu Beginn der Konferenz fest.

Denn bei genauem Hinsehen war auch die einzige gute Nachricht des Samstages eine schlechte. Zwar hat ThyssenKrupp nach anderthalb Jahren Suche endlich einen Käufer für das US-Stahlwerk in Alabama gefunden: Ein Konsortium um den Weltmarktführer ArcelorMittal übernimmt das Werk. Allerdings wollte Hiesinger es eigentlich im Paket mit dem Katastrophen-Werk in Brasilien verkaufen, auf das ThyssenKrupp schon mehrere Milliarden abschreiben musste, und das Monat für Monat immer neue Verluste anhäuft. Der "Erfolg" des Alabama-Verkaufs bedeutet also in Wahrheit: Auf dem eigentlichen Problem — nämlich dem Werk in Brasilien — bleibt Hiesinger sitzen.

Das Brasilien-Werk ist allerdings eine Hypothek, die Hiesinger von seinen Vorgängern geerbt hat. Man kann ihm allenfalls vorwerfen, das Problem noch immer nicht gelöst zu haben. Aber am Wochenende musste der Konzern völlig unerwartet eine neue Großbaustelle einräumen, für die Hiesinger seine Vorgänger kaum noch verantwortlich machen kann: Teile der Edelstahl-Sparte "Nirosta", die ThyssenKrupp vor gut einem Jahr unter dem Namen "Inoxum" an die finnische Outokumpu verkauft hat, muss der Konzern nun zurücknehmen. Konkret: Ein Edelstahlwerk im norditalienischen Terni (rund 3300 Mitarbeiter) und den nordrhein-westfälischen Werkstoffhändler VDM (rund 1600 Mitabeiter).

Damit hat sich Hiesinger ein neues Großrisiko in die Bilanz geholt. Die weltweite Edelstahlproduktion erlebt gerade die schwerste Branchenkrise ihrer Geschichte. Der Preis für die Tonne Edelstahl ist innerhalb eines Jahres von 3200 Euro auf 1050 Euro gefallen. Die wichtigsten europäischen Edelstahl-Unternehmen sind hoch verschuldet und schreiben Verluste.

Thyssens Edelstahl-Comeback ist erzwungen: Im Zusammenhang mit dem Verkauf hat ThyssenKrupp den Finnen 1,2 Milliarden Euro geliehen. Outokumpu ist inzwischen aber ebenfalls in eine so schwere Krise geraten, dass Hiesinger fürchten musste, auf den Schulden sitzen zu bleiben. Also einigte er sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit Outokumpu, das Terni-Werk und VDM wieder zu übernehmen und im Gegenzug auf die 1,2 Milliarden Euro zu verzichten. Das ist bitter für ihn. Der Verkauf der Edelstahlsparte mit 11 000 Mitarbeitern galt als sein bislang größter Erfolg.

Und noch eine schlechte Nachricht musste Hiesinger berichten. Das Eigenkapital des Konzerns schmilzt weiter dahin. Mit 7,1 Prozent ist die Eigenkapitalquote bei dem mit fünf Milliarden Euro verschuldeten Konzern inzwischen niedriger als bei allen anderen Dax-Konzernen. ThyssenKrupp braucht frisches Geld. Und zwar so dringend, dass der Konzern den Verkauf neuer Aktien ankündigt. Eigentlich wollte Hiesinger diesen Schritt erst wagen, wenn der Konzern wieder mit guten Nachrichten um neue Investoren werben kann.

Wenigstens läuft das operative Geschäft bei ThyssenKrupp noch halbwegs gut. Die meisten Aktivitäten — darunter auch das Duisburger Stahlwerk — sind profitabel, was der Konzern vor allem Hiesingers Sparmaßnahmen verdankt. Aber sein Image als allseits bewunderter Retter von ThyssenKrupp hat an diesem Wochenende erste Kratzer bekommen.

(RP)
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