Berlin "Tarifeinheit ist verfassungswidrig"

Berlin · Ex-Verfassungsrichter Di Fabio: Nicht gegen Spartengewerkschaften vorgehen.

Das von der Bundesregierung geplante Gesetz zur Tarifeinheit verstößt nach Einschätzung des früheren Bundesverfassungsrichters Udo Di Fabio gegen das Grundgesetz. In einem gestern präsentierten Gutachten für die Klinikärzte-Gewerkschaft Marburger Bund schreibt Di Fabio, für einen solchen Eingriff in das Recht der Koalitionsfreiheit gebe es "keine erkennbare Rechtfertigung". Die Bundesregierung laufe Gefahr, ein verfassungswidriges Gesetzesvorhaben zu beschließen, warnt Di Fabio, der gegenwärtig Direktor des Instituts für öffentliches Recht in Bonn ist.

Hintergrund ist das von Union und SPD geplante Gesetz, wonach in einem Unternehmen künftig nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern zur Anwendung kommen soll. Damit können auch nur diese Gewerkschaften hier streiken. So will die Regierung verhindern, dass Spartengewerkschaften, die Mitglieder in Schlüsselpositionen wie Lokführer und Piloten vertreten, ein Unternehmen unverhältnismäßig stark und oft durch Arbeitsniederlegungen belasten. Die kleinen Gewerkschaften wie die Pilotenvereinigung Cockpit, die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und der Marburger Bund laufen dagegen Sturm.

Di Fabio beruft sich bei seiner Bewertung der Gesetzespläne auf Artikel 9 des Grundgesetzes, wonach für jedermann und für alle Berufe das Recht gewährleistet ist, "zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden".

Der Experte betont, für den Ausschluss einer eigenständigen Berufsgewerkschaft aus der Tarifautonomie müssten für den Betrieb und die Koalitionsfreiheit "schwerwiegende Gefahren" bestehen. Im aktuellen Fall stehe die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems aber nicht auf dem Spiel.

Zugleich betonte er, die Gründung einer Gewerkschaft mache nur Sinn, wenn diese auch tariffähig sei und mit Arbeitskampf-Maßnahmen die Interessen der Mitglieder vertreten könne. "Wer einer Gewerkschaft das wesentliche Recht nimmt, ihre Tariffähigkeit durch einen Arbeitskampf unter Beweis zu stellen, nähert sich dem Verbot dieser Vereinigung."

Um zu verhindern, dass Lufthansa, Kliniken oder Bahn sowie deren Kunden unverhältnismäßig belastet werden, hält die Fabio andere Maßnahmen als ein faktisches Verbot für sinnvoll: Zum Beispiel die dem öffentlichen Sektor auferlegte Pflicht, Streiks, auch Warnstreiks, längerfristig anzukündigen, damit sich Reisende oder auch Eltern von Kita-Kindern längerfristig darauf einstellen können.

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat für Herbst eine Regelung angekündigt, die trotz dieser gewichtigen Einwände mit dem Grundgesetz vereinbar sein soll. Eine Arbeitsgruppe mehrerer Ressorts hat nach Angaben aus Koalitionskreisen dazu mehrere Modelle erarbeitet. Mit dem Gesetz will die Regierung Streitereien zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften entschärfen. Ob das verfassungskonform möglich ist, bleibt offen.

(rtr/RP)
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