Kolumne: Gesellschaftskunde Warum Neugier im Internet-Zeitalter eine Tugend ist

Neugier gilt heute als Tugend, weil sie Menschen im Informationszeitalter Vorteile verschafft. Allerdings führt Neugier häufig nur an die Oberfläche.

Früher hatte es die Neugier schwer. Da galt sie als ein schwerwiegendes Laster, das den Menschen zerstreut und vom rechten Wege abführt. Augustinus etwa sah in ihr die Lust, sich mit den schönen, oberflächlichen Dingen dieser Welt zu beschäftigen, um Neues zu erfahren. Und Lust war für nichts ein guter Grund. Auch in späteren Jahrhunderten stand allzu großer Hunger nach Neuigkeiten moralisch unter Verdacht.

Dann kam die Informationsgesellschaft. Und auf einmal ist Wissen nicht nur Macht, sondern macht auch reich. Und schon ist Neugier kein Laster mehr, sondern eine Tugend, die Vorteile bringen kann, ein Mittel zum Zweck der Informationsbeschaffung. Der Neugierige erfährt, was andere noch nicht mitbekommen haben. Das zahlt sich aus in unserer Zeit.

Und so gilt es heute bei Vorstellungsgesprächen als clever, bei der üblichen Frage nach den eigenen Schwächen Neugier anzuführen, weil das indirekt ja Wachheit und Wissenshunger signalisiert. Neugier ist heute positiv besetzt. Nur die soziale Neugier, das Horchen im Treppenhaus oder das Kreuzverhören im Kollegenkreis, sind noch negativ behaftet. Weil, wer viel fragt, auch viel weitererzählt. Neugierige sind keine guten Freunde.

Aber Neugierige sind erfolgreich, weil sie den Rohstoff der Gegenwart, Informationen, anhäufen, und dafür müssen sie sich in der Transparenzgesellschaft nicht mehr schämen. Wenn Menschen in den sozialen Netzwerken öffentlich von sich erzählen. Wenn sie Unternehmen ihre Daten schenken, weil die sie mit irgendwelchen Bequemlichkeiten ködern, dann wirkt es auch nicht verwerflich, wenn Privatpersonen wissen wollen, was sie eigentlich nichts angeht oder was ihnen gar nicht weiterhilft. Wer neugierig ist, auf allen Kanälen unterwegs, der scheint der Zukunft besser gewachsen.

Dabei zeichnet sich Neugier durch ihre Oberflächlichkeit aus. Sie ist eben nicht an Erkenntnis interessiert, sondern nur am schnellen Wissenwollen. Tiefgang ist langsam. Wer Informationen auch verarbeiten will, braucht Zeit. Das ist heute genauso möglich wie in früheren Tagen, aber dazu bedarf es des Entschlusses. Wer mithalten will im immer schnelleren Hast-Du-schon-Gehört?-Austausch, der wird irgendwann nicht mehr bemerken, dass ihm das Eigentliche entgeht: die Durchdringung von Informationen, die Scheidung zwischen wertvoll und belanglos.

Die moderne Welt verlangt nach Aufgeschlossenheit und gezieltem Interesse. Wahllose Neugier auf alles verschafft nur Zerstreuung.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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