Seehofers riskante Drohkulisse Wenn die Union auseinanderbricht

Meinung | Berlin · Die CSU sei "auf alles vorbereitet", unterstreicht ihr Parteichef Horst Seehofer und will auch auf mehrfache Nachfrage nicht dementieren, dass dazu auch der Ausstieg aus der großen Koalition gehören könnte. Doch ein solcher Schritt würde vor allem einer schaden: der CSU selbst.

 Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) versucht, Kanzlerin Merkel in der Flüchtlingspolitik unter Druck zu setzen.

Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) versucht, Kanzlerin Merkel in der Flüchtlingspolitik unter Druck zu setzen.

Foto: dpa, cgl soe

Wir erleben eine Zeit, in der die alltäglichen Abläufe der Politik zwar weiter laufen, aber alles und jedes bestimmt wird von einer nie für möglich gehaltenen Ausnahme-Entwicklung. Derzeit kommen in einer Woche mehr Flüchtlinge ins Land, als im Schnitt aller Jahre seit 1953. Das heißt, dass Gesetzgebung, Abwicklung und Rechtsprechung überfordert sein müssen: Dafür sind die bestehenden Systeme nicht ausgelegt.

Das erklärt, warum auch die politischen Akteure geneigt sind, aus den bestehenden Systemen auszubrechen, um Neues zu erkunden. Einerseits weiß die Union nur zu gut, dass gerade ihre Anhänger permanenten Streit und gegenseitige Vorwürfe so attraktiv finden wie Fußpilz und Kopfläuse.

Andererseits liegt ihre Kernkompetenz traditionell auf der verlässlichen Durchsetzung von Recht und Ordnung. Wenn nun unter ihrer Haupt-Regierungsverantwortung für jeden sichtbar die Regeln des europäischen Asylrechtes nicht mehr eingehalten werden und von geordneten Verfahren keine Rede mehr sein kann, ist nur zu leicht erklärlich, warum die Fliehkräfte innerhalb und zwischen den beiden Schwesterparteien CDU und CSU zu wirken beginnen.

Seit dem Sommer versuchen Unionsinnenpolitiker ihre SPD-Kollegen davon zu überzeugen, dass die Zunahme der Flüchtlingszahlen von wenigen Zehntausend auf viele Hunderttausend nur in den Griff zu bekommen ist, wenn das rigoros gehandelte Flughafenverfahren nicht nur in den kleinen exterritorialen Ankunftsbereichen der Airports angewendet wird, sondern auch in großen exterritorialen Aufnahmebereichen an den deutschen Grenzen: Flüchtlinge ohne erkennbare Chance auf Anerkennung sollen gar nicht erst deutschen Boden betreten. Es sieht danach aus, als würde die SPD auch an dieser Stelle beidrehen. Auch aus den Reihen der Grünen werden Stimmen laut, die unter bestimmten Bedingungen den Weg dafür frei machen würden.

Das zeichnete sich bereits ab, bevor Seehofer Tag um Tag die Drohkulisse ausweitete. Das Ultimatum bis Sonntag, die auf Seehofers Umgebung zurückgeführte Drohung mit einem Abzug der drei CSU-Minister aus der Bundesregierung. Das sind die großen Hämmer, die man nur selten auf den Tisch legen sollte, wenn sich ihre Wirkung nicht relativieren soll. Warum tut er es?

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Weil er ein deutliches Zeichen in die eigene Bevölkerung setzen will, wie sehr er bis zum Äußersten für eine Verbesserung der Verhältnisse kämpft? Weil er noch deutlich mehr erreichen will als Transitzonen? Etwa geschlossene Grenzen und den Einsatz von zehntausend Bundespolizisten in den Grenzregionen?

Es könnte jedoch auch eine Reaktion auf das Flüstern, Wispern und Raunen sein, das sich um den "Geist von Kreuth" dreht. Wenn die CDU unter Merkel so weit nach links driftet, dass es Konservativen in der Union schwindlig wird und wenn der Ruf nach einer politischen Kraft rechts dieser CDU immer lauter wird, liegt es da nicht nahe, den 1976 von der CSU in Wildbad Kreuth eingeschlagenen, dann aber nie gegangenen Weg einer Trennung von der CDU in den Blick zu nehmen? Das ließe sich nicht aus der Hüfte schießend bewerkstelligen. Dazu müsste der Boden bereitet werden.

Und dazu müsste man dann schon mal das Publikum an den Gedanken einer Herauslösung der CSU aus den bestehenden Berliner Strukturen gewöhnen. Die Folgen wären nahezu zwangsläufig: Wer die Minister zurückzieht, muss auch die Koalition verlassen. Und wer diese Grundlage der Zusammenarbeit in der Fraktionsgemeinschaft der Union umstößt, muss auch diese Fraktion verlassen. Und wer das tut — der sollte sich nicht nur im Parlament sondern auch im Parteiensystem insgesamt neben der CDU positionieren.

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Außerbayerische CSU-Fans halten sich selbst für so zahlreich, dass sie Werte von 30 Prozent für eine bundesweite CSU zumindest regional für möglich halten. Seehofers Traum von der absoluten Mehrheit für CDU und CSU könnte sich auf diesem Umweg bewerkstelligen lassen — aber nur, wenn die Rechnung nicht zu viele Unbekannte enthält. Lassen sich wirklich AfD-Protestwähler von einer CSU vereinnahmen? Kommen ins Nichtwählerlager abgewanderte Konservative zu einer für bayerische regionale Verhältnisse optimierten Partei zurück zur Wahlteilnahme? Wie identitätsstiftend bliebe die CSU in Bayern, wenn sie sich bundesweit aufstellen müsste und die Bayern als Alternative eine bayerische CDU vorfänden?

Im anderen Lager hat schon einmal ein vom eigenen Kanzler frustrierter ehemaliger SPD-Chef eine neue Partei jenseits der SPD in Stellung gebracht, um eine "linkere" SPD zu bewirken. Wäre das eine Modellvorlage dafür, die Union zu stärken, indem es mit der CSU eine "rechtere CDU" als Ergänzung hinzu gäbe? Oskar Lafontaine hat zwar der von Auszehrung bedrohten SED-Nachfolgepartei das Überleben gesichert, doch zugleich die Regierungsfähigkeit und das Potenzial der SPD geschwächt. Es spricht vieles dafür, dass im anderen Lager ein exekutierter Trennungsbeschluss zu ähnlicher Selbstschwächung führen würde.

In einer Zeit, in der das gesamte politische Personal gebraucht wird, um die Flüchtlingssituation in Bund, Ländern und Gemeinden in den Griff zu bekommen, wäre das christdemokratische Lager damit beschäftigt, mit riesigem Kraftaufwand neue Parteistrukturen aufzubauen, in jeder Region, jeder Stadt, jedem Bezirk eine neue Hackordnung auszukämpfen. Wer verlässt die CDU? Wer wird was in der neuen CSU? Wie punktet ein CSU-Politiker optimal gegen den CDU-Politiker.

Dazu noch die zermürbende Auseinandersetzung mit jenen, vorsichtig ausgedrückt, eigenwilligen politischen Gestalten, die jeder neuen Partei das Leben schwer machen. Und vor allem: Das Grundgefühl der Union, in den meisten Wahlkreisen Deutschlands Direktkandidaten nach Berlin zu entsenden, käme in Gefahr. Wenn sich CDU- und CSU-Kandidaten ihr Wählerpotenzial teilen, dürften sich oft genug Sozialdemokraten über zusätzliche Direktmandate freuen. Seinerzeit liefen die CSU-Pläne unter dem Stichwort "vierte Partei" (neben CDU, SPD und FDP), inzwischen müsste sie die Devise "sechste Partei" ausgeben. Das zeigt schon, wie sehr der Charme dieser Idee an Relevanz eingebüßt hat.

1976 brauchte die CSU 23 Tage, um den Trennungsbeschluss als unsinnig zu betrachten und wieder einzukassieren. 2015 dürfte es deutlich schneller gehen.

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