Entführungen übersteigen jegliche Form von Grausamkeit Opfer und Angehörige leiden seelisch gleichermaßen

Frankfurt/Main (rpo). Selbst geschulte Psychologen stocken, wenn sie die Qualen der Angehörigen entführter Kinder beschreiben müssen. Ein Kidnapping ist eine seelische Grausamkeit, unter der Opfer und ihre Eltern gleichermaßen leiden.

"Das übersteigt jegliche Form von Grausamkeit gegenüber den Eltern", erklärt der Bielefelder Psychologe und Traumaexperte Werner Wilk. Seelisch sei dies für die Eltern der schlimmste Fall, der denkbar sei.

Wer erlebt habe, welche Ängste Eltern schon ausstünden, wenn die eigenen Kinder zu spät nach Hause kämen, könne erahnen, wie es den Angehörigen von Entführungsopfern gehe, betont Wilk. Hier erlebten Erwachsene einen Grad an Hilflosigkeit, der auch von Fachleuten oft nur mit Hilfe von Medikamenten aufgefangen werden könne.

Der Traumapsychologe Christian Lüttke aus dem nordrhein-westfälischen Bergkamen spricht von einer "sekundären Traumatisierung" bei den indirekt Betroffenen. Fachleuten sei inzwischen klar, dass die Angehörigen von Entführungsopfern gleich schwere psychische Wunden empfangen wie die Gekidnappten selbst, erklärt Lüttke, der unter anderem die Angehörigen der Geiseln von Wrestedt betreut hat. Im April waren im niedersächsischen Wrestedt zwei Bankangestellte von Bankräubern in die Ukraine verschleppt worden.

Verhandlungsgruppe betreut die Eltern

In aller Regel würden die Eltern entführter Kinder von Mitgliedern einer so genannten Verhandlungsgruppe zu Hause betreut, berichtet der Traumaexperte. Bei der Gruppe handele es sich um eine Spezialeinheit der Polizei, die für Verhandlungen mit den Tätern psychologisch geschult sei. Diese Experten könnten versuchen, die Angehörigen seelisch zu stabilisieren.

"Die Betroffenen sitzen da und warten auf kleinste Informationen", erklärt Lüttke. Trost zu spenden, sei in dieser Situation allerdings nahezu unmöglich. Für Opfer und Angehörige stelle eine Entführung gleichermaßen eine äußerst extreme Belastung dar. Die Betroffenen erlebten Kontrollverluste, Hilflosigkeit und Bedrohung, führt Lüttke aus. Bei den Opfern schütte der Körper offenbar Adrenalin und Opiate aus, was das Schmerzempfinden und die Zeitwahrnehmung beeinflusse.

Bei vielen Gekidnappten trete auch eine Art "seelischer Taubheit" auf, die zunächst helfe, mit der Situation zurecht zu kommen: "Die Betroffenen können gewissermaßen auf Autopilot umschalten", erklärt der Traumapsychologe. Komme das Opfer unversehrt frei, seien die Chancen gut, dass keine seelischen Schäden zurück blieben.

Nach der Schockphase folgt Einwirkungsphase

Experten haben heraus gefunden, dass die seelische Verarbeitung von Entführungen in mehreren Phasen abläuft. An eine einwöchige "Schockphase", in der das Opfer vor allem verwirrt und traurig sei, schließe sich eine bis zu sechs Wochen anhaltende "Einwirkungsphase" an, berichtet Lüttke. In dieser Zeit werde der Betroffene von bösen Erinnerungen gequält: "Die Menschen erleben etwa immer wieder, dass ihnen eine Waffe an den Kopf gehalten wird."

In der dritten Phase litten viele Betroffen an Symptomen einer Übererregung wie Gereiztheit, Schlafstörungen oder Konzentrationsschwächen. Dies alles sei völlig normal, betont Lüttke. Wer nach einer Entführung vier Wochen lang nicht mehr schlafen könne, müsse nicht fürchten, verrückt zu werden. Nicht die Opfer seien verrückt, erklärt der Traumapsychologe: "Das, was ihnen passiert ist, war verrückt."

Zwischen zwei und zehn Prozent der Betroffenen sind nach Entführungen in der Gefahr, chronische Störungen zu entwickeln, berichtet Lüttke. Dagegen kann ein rasches Eingreifen von Fachleuten helfen. "Jeder einzelne der betroffenen Familie ist in seinem Gefühl von Sicherheit und Vertrauen extrem erschüttert", betont Wilk. Eine professionelle Beratung durch Psychologen könne da helfen, dass die Betroffenen den Weg in den Alltag zurück fänden.

(RPO Archiv)
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