Arzt spricht über Behandlung Wie eine Wachkoma-Patientin nach 27 Jahren ins Leben zurückkehrt

Bad Aibling · Ein Jahr ist es her, dass eine Patientin nach 27 Jahren im Wachkoma in einer Klinik in Bad Aibling wieder aufwachte. Wie geht es der Frau aus den Arabischen Emiraten heute?

 Fast drei Jahrzehnte lag die Munira Abdulla nach einem Unfall im Wachkoma. Wieder zurück in der Heimat besucht sie in Abu Dhabi die Sheikh Zayed Grand Mosque.

Fast drei Jahrzehnte lag die Munira Abdulla nach einem Unfall im Wachkoma. Wieder zurück in der Heimat besucht sie in Abu Dhabi die Sheikh Zayed Grand Mosque.

Foto: RP/Omar Webair

Es wird als das „Wunder von Aibling“ bezeichnet: Fast drei Jahrzehnte lag die Araberin Munira Abdulla nach einem Unfall im Wachkoma, wurde über all die Jahre in unterschiedlichen Kliniken in London, in den Vereinigten Arabischen Emiraten und den USA behandelt. Ohne Erfolg. Erst in der neurologischen Spezialklinik in Bad Aibling und mit der Therapie von Chefarzt Friedemann Müller und seinem Team gelang das, was äußerst selten ist: Die Patientin wachte wieder auf, kann sich - wenn auch schwer - artikulieren, nimmt am Leben in ihrer Familie teil. „Sie hebt sogar einen Arm“, beschreibt Müller nur eine der vielen Sensationen. „Und sie merkt, wenn jemand nicht am Essen der Familie teilnimmt und fragt nach ihm.“ Natürlich: Sie bleibe den Rest ihres Lebens auf Hilfe angewiesen, könne sich nicht selbst versorgen, habe nach wie vor Artikulationsstörungen und sei körperlich behindert und auf einen Rollstuhl angewiesen. „Aber jetzt kann man gut mit ihr arbeiten“, so Müller, der auch ein Jahr nach der Behandlung noch in Kontakt mit Familie Abdulla ist.

Die Geschichte Es war das Jahr 1991, als Munira Abdulla ihren vierjährigen Sohn Omar von der Schule abholen will. Mutter und Sohn sitzen auf der Rückbank ihres Autos, als der Wagen plötzlich von einem Schulbus gerammt wird. Die Mutter wirft sich über ihren Jungen, er wird nur leicht verletzt. Sie aber erleidet lebenslange Schäden durch diesen Zusammenstoß. Sie fällt ins Koma. Später heißt es, sie leide unter dem „Syndrom des minimalen Bewusstseins“. Eine lange Krankengeschichte schließt sich dem tragischen Unfall an. Während Sohn Omar heranwächst, wird seine Mutter ein Vierteljahrhundert in internationalen Kliniken behandelt. Im Sommer 2017 wird sie dann in die Schön-Klinik in Bad Aibling eingewiesen - und trifft auf Chefarzt Friedemann Müller.

 Friedemann Müller, Neurologe an der Schön Klinik in Bad Aibling, hat Munira Abdulla behandelt.

Friedemann Müller, Neurologe an der Schön Klinik in Bad Aibling, hat Munira Abdulla behandelt.

Foto: RP/Anke Kronemeyer

Seine Diagnose „Nach dem Schädel-Hirn-Trauma war es im Gehirn zu umfangreichen Zerstörungen und Atrophien (Gehirnschwund) gekommen, was zu wesentlichen Beeinträchtigungen der Wachheit und des Bewusstseins führte“, sagt Müller. Weitere Komplikationen kamen hinzu: Die Patientin litt unter einer schweren Spastik, unter massiven Gelenkversteifungen unter anderem an den Händen, hatte extreme Muskelanspannungen und eine posttraumatische Epilepsie.

Die Behandlung Für Friedemann Müller war es von Anfang an wichtig, dass alle Beschwerden behandelt würden. „Wir wollten aus dem kleinen Blickkontakt, den wir mit ihr hatten, eine weitergehende Kommunikation entwickeln.“ Gegen die Spastik gaben er und sein Team Botulinumtoxin, gegen die Epilepsie wurden Medikamente mit ganz leicht sedierender Wirkung verabreicht, steife Gelenke wurden operiert, eine Pumpe wurde implantiert, über die antispastische Medikamente direkt ins Rückenmark eingeschleust werden konnten.

Das Ergebnis Die mehrmonatige komplexe Therapie half der Patientin dabei, ein besseres Körperschema zu entwickeln, und es ging ihr offenbar immer besser. Physio- und Ergotherapeuten arbeiteten mit ihr und mobilisierten sie weiter. Sie wurde zudem über eine Sonde ernährt. Bis dann eines Tages der Sohn aufgeregt aus dem Zimmer seiner Mutter stürmte und sagte: „Sie hat meinen Namen gesagt, sie sagt 'Omar'.” Die Mediziner mochten das gar nicht glauben, warteten ein bisschen ab und beobachteten ihre Patientin weiter. „Aber dann sagte sie wirklich 'Omar'“, erzählt Friedemann Müller. Noch später erinnerte sich Munira Abdulla sogar an einige Koran-Verse, die sie im Krankenbett aufsagen konnte. Ein kleines medizinisches Wunder war geschehen.

Die Konsequenz Die Behandlung dauerte vom Sommer 2017 bis Sommer 2018, dann wurde die Patientin zurück in ihre Heimat gebracht. Bekannt wurde der Fall aber erst in diesem Jahr Ende April. Der Sohn wollte die Weltöffentlichkeit über das „Wunder“ informieren und gab seiner Heimatzeitung ein Interview. Die britische Boulevardzeitung „The Sun“ griff das auf, dann zahlreiche andere deutsche und internationale Medien. „Ich habe bestimmt 50 Interviews gegeben“, berichtet Friedemann Müller über das Medien-Echo. Das hat nun eine weitere Folge: „Jetzt melden sich ganz viele Angehörige von Koma-Patienten aus aller Welt, die bis dahin als hoffnungslose Fälle galten.“ Er sieht sich alle Fälle auf Papier an und entscheidet dann, ob eine Therapie in seiner Klinik empfehlenswert sein könnte. Aber: „Ich will keine sinnlosen Behandlungen machen,“ sagt der Chefarzt. „Dieser Fall ist wirklich revolutionär. Man kann eigentlich nicht damit rechnen, dass ein Wachkoma-Patient nach 27 Jahren wieder aufwacht. Nach einem Jahr vielleicht ...“ In dem Fall von Munira Abdulla hätten alle „viel Glück gehabt und wahrscheinlich das Richtige getan“. Darum will er auch nicht von einem „Wunder von Aibling“ sprechen.

Status Quo Friedemann Müller hält Kontakt zur Familie von Munira Abdulla, bekommt immer mal wieder Fotos von ihr geschickt, wie sie im Rollstuhl sitzend vor einer Moschee in Abu Dhabi, der Sheikh Zayed Grand Mosque, sitzt, die erst während der Zeit ihres Wachkomas gebaut wurde. Sie will sich jetzt auch an ihrem gelähmten Arm operieren lassen. Er sagt aber auch ganz klar: „Diese Frau braucht für den Rest ihres Lebens Hilfe im Alltag.“ Er warnt davor, Patientenverfügungen oder Organspendeausweise zu ändern - um vielleicht den Passus mit der Ernährung über eine Sonde oder den Einsatz von lebenserhaltenden Maschinen zu streichen. „Man muss wirklich überlegen, ob man 27 Jahre so leben will wie diese Patientin, ob das ein lebenswertes Leben ist, und ob man den Rest seines Lebens auf andere Hilfe angewiesen sein will.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort