Skandal rund um die NSU-Ermittlungen Fahnder vernichtete Neonazi-Akten

Berlin · Was trieb einen erfahrenen Verfassungsschützer, ausgerechnet an dem Tag, an dem das ganze Ausmaß der Neonazi-Morde bekannt wurde, Akten zu Vorgängen in der Szene zu schreddern – und dann den Tag der Vernichtung zu verschleiern? Eine Vertuschungsaktion? Szenen eines Skandals.

Chronologie: die Raubüberfälle der NSU
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Foto: dapd, Patrick Sinkel

Was trieb einen erfahrenen Verfassungsschützer, ausgerechnet an dem Tag, an dem das ganze Ausmaß der Neonazi-Morde bekannt wurde, Akten zu Vorgängen in der Szene zu schreddern — und dann den Tag der Vernichtung zu verschleiern? Eine Vertuschungsaktion? Szenen eines Skandals.

Sollte das unglaubliche Versagen deutscher Sicherheitsbehörden angesichts der 13 Jahre unbehelligten Neonazi-Serienmörder jemals verfilmt werden, so dürfte der Papierschredder im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eine Schlüsselszene bekommen. Denn der Vorgang steht im Zentrum eines Skandals: Gerade liegen die Schlagzeilen von der Enttarnung des Terror-Trios auf dem Tisch, gerade zieht der Generalbundesanwalt die Ermittlungen an sich, weil es um neun Morde der bis dahin unbekannten Neonazi-Zelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) geht, da sortiert ein Referatsleiter des Verfassungsschutzes am 11. November 2011 sieben Akten aus und versieht sie mit dem Vermerk "Zu vernichten" — was seine Sekretärin noch am folgenden Tag (einem Samstag!) vollzieht.

Kann dahinter wirklich nur das Aussetzen aller Alarmsysteme im Kopf des erfahrenen Verfassungsschützers stehen? Ist er tatsächlich nur stupide der allgemeinen Dienstvorschrift gefolgt, wonach bei Sichtung von Akten die gesetzliche Vorgabe zur Vernichtung nach spätestens zehn Jahren zu beachten ist, falls es zu den Vorgängen keine neuen Hinweise gibt? Von solchen Hinweisen kündeten die Schlagzeilen dieser Tage zur Genüge. Zumal es in den Akten um genau jenen Thüringer Heimatschutz ging, der nun in den Mittelpunkt der Ermittlungen rückte. Trotzdem gab der Ermittler die Informationen in den Reißwolf.

Disziplinarverfahren soll Fragen klären

In ersten Aussagen soll der Referatsleiter die Vorschrift zur Aktenvernichtung als Erklärung angedeutet haben. Weiteres soll das laufende Disziplinarverfahren ergeben. Einstweilen hat die Amtsleitung ihn von seinem Aufgabenbereich abgezogen, für den er seit mehr als einem Jahrzehnt Verantwortung trug. Er war daher nicht erst seit Aktensichtung bestens im Bilde, was sich hinter der "Operation Rennsteig" verbarg. Es war eine von 1997 bis 2003 laufende Drei-Geheimdienste-Aktion, durch die das Bundesamt, das Thüringische Landesamt und der Militärische Abschirmdienst (MAD) V-Leute in der Szene zu gewinnen versuchten, um die wachsende Gewaltbereitschaft der regionalen Neonazi-Szene zu durchleuchten.

Das Prekäre: Das Neonazi-Terrortrio gehörte zu dieser Szene. Aber in den Akten soll der NSU nicht aufgetaucht sein. Das beteuern jedenfalls Sicherheitskreise. Schon gar nicht hätten die Namen auf einer "Zielpersonenliste" mit 35 Personen gestanden, die die Verfassungsschützer für die Mitarbeit gewinnen wollten. Letztlich verpflichteten sich acht Rechtsextremisten, den Verfassungsschützern zu berichten. Genau diese Berichte sollen in den Akten gestanden haben, und zwar sämtlich "ohne Relevanz". Wie konnte das der Referatsleiter schon im November 2011 beurteilen, an dem die Behörden doch gerade erst begannen, alle Erkenntnisse noch einmal sorgsam zu überprüfen?

Der zweite Fehler

Dem einen kapitalen Fehler folgte ein weiterer: Denn als im Januar erstmals bekannt wurde, dass sieben Akten zur Thüringer Neonazi-Szene vernichtet worden seien, versicherte der Mann seinen Vorgesetzten, das sei schon Anfang Januar 2011 passiert. Das klang harmlos und geschäftsmäßig plausibel. Die Lüge wurde nach Informationen aus Sicherheitskreisen entdeckt, als sich BfV-Präsident Heinz Fromm auf seinen Auftritt im NSU-Untersuchungsausschuss nächste Woche vorbereitete und wissen wollte, an welchem Tag im Januar genau denn die Vernichtung erfolgte. Weil das alles protokolliert wird, flog der Referatsleiter auf.

Zusätzlich brisant wird die Angelegenheit durch den Fund in einer anderen Liste. Da hatte der MAD für eigene Zwecke eine Aufstellung von verdächtigen thüringischen Neonazis im wehrpflichtigen Alter haben wollen — und auf denen fanden sich dann prompt die Namen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, den beiden Hauptverdächtigen der Terrorzelle. Das soll zwar nichts direkt mit der "Operation Rennsteig" zu tun gehabt haben, spielt aber zumindest in deren Umfeld.

"Vorgang kann nicht folgenlos bleiben"

Deshalb will die Opposition nun wissen, ob hier etwas vertuscht worden ist, fordert auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) umgehend lückenlose Aufklärung und spricht sich FDP-Fraktionsvize Gisela Piltz im Gespräch mit unserer Redaktion auch für personelle Konsequenzen aus: "Egal, wie man es dreht und wendet, der ganze Vorgang ist nahezu skandalös und kann nicht folgenlos bleiben."

Dahinter trat der Auftritt von Jörg Ziercke, dem Chef des Bundeskriminalamts, am Donnerstag in den Hintergrund, obwohl der Zeuge den Ausschuss gewaltig in Wallung brachte. Ziercke räumte zwar Versagen bei der Aufdeckung der Morde ein, aber kein eigenes. "Das große Versagen ist, dass uns die Hinweise gefehlt haben, dass wir mit den Instrumenten, die wir haben, nicht auf diese Informationen gekommen sind", sagte Ziercke.

Ausschussvorsitzender Sebastian Edathy (SPD) warf Ziercke vor, überhaupt keine Einsicht gezeigt zu haben und "selbstgerecht und selbstherrlich" zu sein.
Als weitere Konsequenz aus dem NSU-Skandal verabschiedete der Bundestag gestern jedenfalls schon einmal eine Neonazi-Verbunddatei, die die Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz verbessern soll. Wenn denn vorher nicht wieder geschreddert wird.

(may-)
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