Remscheid Leben im Wartezustand

Remscheid · Der norwegische Regisseur Alan Lucien Øyen zeigt das "zweite neue Stück" mit dem Pina-Bausch-Ensemble nach dem Tod der Prinzipalin. Ein vielversprechender Neuanfang im Wuppertaler Opernhaus.

 Eine Szene aus dem "zweiten neuen Stück" von Regisseur Alan Lucien Øyen mit dem Ensemble des Tanztheaters von Pina Bausch. Mit (von links) Pau Aran Gimeno, Helena Pikon und Julie Shanahan.

Eine Szene aus dem "zweiten neuen Stück" von Regisseur Alan Lucien Øyen mit dem Ensemble des Tanztheaters von Pina Bausch. Mit (von links) Pau Aran Gimeno, Helena Pikon und Julie Shanahan.

Foto: Mats Bäcker

Der lange Schatten der großen Pina Bausch scheint seit einiger Zeit wie ein Grabstein über dem Tanztheater in Wuppertal zu liegen. Das Ensemble pflegt das Repertoire aus über 30 Inszenierungen der Choreographin. Die Einladungen zu Gastspielen in aller Herren Länder reißt nicht ab. Aber dieses Konzept bildet kein stabiles Fundament für die Zukunft der Compagnie. Es feiert eine glorreiche Vergangenheit. Das reicht aber nicht. An dieser künstlerischen Wucht, die die Erfinderin des Tanztheaters in die Welt gesetzt hat, kann man im Opernhaus in Barmen zerbrechen, wenn es nicht gelingt, mit dem wunderbaren Ensemble neue Wege zu wagen. An dieser Weggabelung steht die Truppe.

Der junge norwegische Regisseur Alan Lucien Øyen zeigt, wie es gelingen kann, sich im Geiste von Pina Bausch von Pina Bausch zu befreien. Mit dem 38-jährigen Øyen tritt ein Choreograph an, der eine eigene Welt auf der Bühne kreiert. Eine Welt, in der die Schnittstellen zwischen Traum und Wirklichkeit, Fiktion und Realität, Erinnerung und Gegenwart verschwimmen wie die Aquarellfarben auf nassem Papier.

Die 16 Tänzer erzählen Geschichten von Toten, von Selbstmördern, von Sterbenden und Verzweifelten. Ihre Figuren tragen jede auf ihre Weise die Dürre der Einsamkeit im Herzen. Immer wieder wählt einer die Drehscheibe eines schwarzen Telefons und spricht: "Ich will eine Botschaft senden ... Ich warte ..." Eine Verbindung kommt nicht zustande. Leben im Wartezustand, während die Erinnerung die Gespräche mit Toten in die Seele spült. Eine sanfte Elegie auf die Müdigkeitsgesellschaft.

Bühnenbildner Alex Eales baut einen Theaterraum mit verschiebbaren Wand-Elementen. Funzeliges Licht schimmert hinter kleinen Lampenschirmen aus den 1950er-Jahren. Durch ein paar Schwenks der fahrbaren Möblierung deuten sich schnell konkrete Innenräume an: eine Küche, ein Wohnzimmer, eine Garderobe. Oder die Szene weitet sich zu einem öffentlichen Platz, mit einer Gasse, in der getanzt wird. Diese Wechsel entstehen mit schwebender Beiläufigkeit und korrespondieren mit dem Musiksound aus Klavieretüden, Salonorchesterklängen, stolpernden Elektro-Pop- Rhythmen. Die Musik legt sich wie ein luftiges Netz über in diesen labyrinthisch und etwas altmodisch bestückten Bühnenraum, in dem Algorithmen keine Macht haben.

Øyen konzentriert den Tanz auf Soli und Duette. Große Ensemblenummern fehlen. Dort, wo die Geschichten von Tod, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit nicht hinreichen, öffnet die Körpersprache eine neue Tür. Die Tänzer zaubern Auftritte hin - zum Niederknien. Emma Barrowman zum Beispiel: Eine groß gewachsene Frau mit blondem langen Haar schlendert leichtfüßig zu souliger Musik vor einer schwarzen Wand entlang. Sie tanzt zwischen den anderen in sich versunken, somnambul verträumt. Würde man sie ansprechen, fiele sie vermutlich vor Schreck zu Boden, so weit und so schön beamt sie sich aus der Realität.

Julie Shanahan, die zweite große Blonde und seit Urzeiten Mitglied des Ensembles, drapiert sich wie eine Diva auf einen großen, mit grünem Stoff bezogenen Sessel, während eine Filmcrew um sie herum alles bereitet. Tasche, Tischchen, Telefon, Lampe, Rotwein stehen am rechten Ort. Zum Schluss bekommt sie einen Revolver in die Hand gedrückt. Die Crew verschwindet, die Frau erschießt sich, und das Gift der Verzweiflung hängt für eine gefühlte Ewigkeit wie Rostflecken an den verblassten Wänden. Das ist das Schöne am Theater, die Toten stehen wieder auf. Und sterben noch einmal. Damit der Abend nicht von bleischwerer Melancholie erdrückt wird, setzt Øyen immer wieder heitere, zynische und sarkastische Kommentare ein. So schreibt man Grußkarten an Selbstmörder, oder gibt einer Frau zu verstehen, dass sie mit der Urne ihres Vaters zehn Jahre zu spät kommt. Aber als Aschenbecher sei die Urne dienlich.

Dreieinhalb Stunden dauert der Abend. Erst am Ende scheint die szenische Fantasie zu erlahmen. Im Schlussbild steht das Ensemble vor einer Klagemauer aus weißen Blumen. Von oben fällt Schnee. Die Hoffnungslosen und Unberührbaren in einer Winterlandschaft.

Das Publikum feierte die Inszenierung und den Regisseur. Ein leerer Stuhl stand beim Schlussapplaus zwischen den Tänzern. Der Regiestuhl der Pina Bausch. Beim nächsten neuen Stück von Øyen braucht man ihn nicht mehr.

(RP)
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