Serie 90 Jahre und mehr Aus Breslau an den Niederrhein

Lobberich · Ursula Schmitz lebt seit fünf Jahren in der Seniorenresidenz am Park Lobberich. Für die RP berichtet sie aus den 92 Jahren ihres Lebens

 Ursula Schmitz wurde am 2. November 1925 in Breslau geboren. Heute lebt sie in Lobberich. Sie erzählt aus ihrem Leben, von Liebe, Heimat, Krieg.

Ursula Schmitz wurde am 2. November 1925 in Breslau geboren. Heute lebt sie in Lobberich. Sie erzählt aus ihrem Leben, von Liebe, Heimat, Krieg.

Foto: Bauch, Jana (jaba)

„Wenn man schon fast ein Jahrhundert gelebt hat, lebt man von seinen Erinnerungen. Vorwärts, immer nur einen Tag weiter planen. Heute denke ich in kleinen Schritten“, sagt Ursula Schmitz. Ein Zeitungsinterview geben, das ist auch für die 92-Jährige Neuland. Sie lächelt und beginnt, aus ihrem Leben zu erzählen. Ganz von vorne.

Ursula Schmitz wird am 2. November 1925 in Breslau in Schlesien geboren. Die Stadt an der Oder ist noch immer ihre Heimat. Land und Leute sollen auch in späteren Jahren ihr Leben prägen. Ursula Schmitz besucht die Volks- und Mittelschule. „Heutzutage würde fast kein Kind mehr für eine gute Schulbildung kämpfen. Lernen, lernen, lernen. Was du einmal gelernt hast, das kann dir keiner mehr nehmen“, betont die heutige Rentnerin. „Der Mittelschulbesuch hat damals zehn Mark im Monat gekostet. Wer Abi machen wollte, musste 20 Mark monatlich zahlen. Das war damals sehr viel Geld“, erinnert sie sich. Das Mädchen hat Glück. Seine Lehrer glauben fest an es, unterstützen es. Gute Bildungschancen für Frauen sind damals noch eher ungewöhnlich. „Alles wurde streng getrennt. Mädchen und Jungen. Katholiken und Evangelen. Jungen habe ich erstmals im Studium treffen können“, sagt sie. Ursula Schmitz macht 1944 Abitur.

Von klein auf hat sie ein Ziel vor Augen: Sie möchte Ärztin werden. Als sie acht Jahre alt ist, sieht sie in einer Klinik Kinder, die an Diphtherie erkrankt sind. In ihr erwacht der Wunsch, Menschen zu helfen. Während des Krieges wird Breslau zum Lazarett, Schulen werden Notunterkünfte. Bis der Krieg Anfang 1945 auch Breslau erreicht. Das russische Militär rückt nach Schlesien vor. Breslau wird zur Festung: Die Stadt wird rundum vom Militär umstellt und beschossen, von oben fallen Bomben herab. Frauen und Kinder müssen die Stadt verlassen, die Männer bleiben. Die ganze Stadt liegt in Trümmern. Ursula Schmitz flieht mit ihrer Familie. Auch ihr Vater kommt mit dem Leben davon, bleibt vom Kriegsdienst verschont, da er einige Jahre zuvor von einer Leiter stürzte und dauerhafte Verletzungen beibehält. Hirschberg im Riesengebirge wird ihr Zufluchtsort, die Familie kommt bei Verwandten unter.

Ursula Schmitz erinnert sich an die Besetzung der Russen: „Meine Mutter hatte immer Angst um mich. Keine Frau war sicher. Als wir im Keller saßen, kamen die Russen runter gestürmt.“ „Uri, Uri!“, sind die Rufe der Besatzer, die das Mädchen zu übersetzen weiß. „Ich habe ihnen die Uhr meiner Großmutter gegeben, ein Erbstück. Sie waren zufrieden und sind gegangen.“ Am 8. Mai 1945 ist der Krieg zu Ende.

Viele junge Mädchen und Frauen werden von russischen Soldaten verschleppt. Ursula Schmitz erinnert sich an eine brenzlige Situation mit Soldaten in einem Kasernenhof: „Komm hier, Frau sitzen“, wird sie gemeinsam mit einem anderen Mädchen aufgefordert. Als die beiden kurz unbeobachtet sind, trifft Ursula Schmitz eine Entscheidung: „Mit Gott kann ich über Mauern springen. Der Glaube hat mir Kraft gegeben“. Sie entkommen über einen hohen Zaun. Immer neben den Straßen her, können die beiden Mädchen zurück nach Hirschberg fliehen.

Bald erreicht ein Gerücht die Familie: Schlesien soll polnisch werden. Es dauert nicht lange, bis die polnischen Landsleute einziehen. „Sie haben alles mitgenommen. Heute weiß ich, dass es denen noch schlechter ging als uns. Auch die polnischen Leute wurden vertrieben, ihr Land wurde ihnen genommen. Heute kann ich das verstehen, damals konnte ich es nicht“, erinnert sich die 92-Jährige.

In einem Güterwagen muss die Familie Richtung Westen ziehen. Straßenweise werden alle Häuser evakuiert. Jeder darf nur mitnehmen, was er tragen kann. Die Familie steigt in der britischen Zone in Helmstedt aus. Das Mädchen schlägt seinen Eltern vor, eine neue Heimat in den westfälischen Industrie-Städten zu suchen. Lüdenscheid wird ihre neue Heimat. „Wir standen mit unserem Gepäck auf der Straße und wurden einer Familie zugewiesen, bei der wir ein Dach über dem Kopf bekommen sollten. Offensichtlich waren sie nicht so begeistert davon und ließen uns zuerst nicht rein.“

Ursula Schmitz möchte nun ihren Traum verwirklichen. Sie bekommt 1946 eine Stelle als Krankenpflegeschülerin. Die Auszubildende fühlt sich allerdings nicht genügend gefordert und kann ihre Eltern von der Idee eines Medizinstudiums überzeugen. Die Suche nach einem Studienplatz ist nicht einfach. Hamburg, Köln, Münster: Alle Plätze sind belegt. Ihr Vater entschließt sich, persönlich nach Göttingen zu fahren, dort wird er nach Würzburg verwiesen. Würzburg ist zu 80 Prozent zerstört – die Universität jedoch ist unversehrt. Er nimmt das Anmeldeformular mit und fährt zurück nach Lüdenscheid. Ursula Schmitz unterschreibt. Am nächsten morgen eilt der Vater wieder nach Würzburg. Ein riesiger Stapel mit Anmeldeformularen liegt auf dem Tisch. Unbemerkt legt er die Anmeldung nach ganz oben. Es klappt.

Ursula Schmitz geht nun ihren eigenen Weg und wird von der evangelischen Studiengemeinde unterstützt, findet hier eine neue Familie. Immer mehr wird ihr bewusst: Sie kann auf Gottes Hilfe vertrauen. Bei der Wohnungssuche trifft sie auf ein schlesisches Mädchen. Die beiden verstehen sich auf Anhieb und können trotz Wohnungsnot ein gemeinsames Zimmer beziehen.

Ihr Physikum absolviert Ursula Schmitz 1949. Besonders gefällt ihr ein Nebenjob, den sie in der Kinderklinik bekommt. Zwei Jahre später erhält die Studentin die Möglichkeit für ein Auslandssemester in London. Als die Schlesierin in der britischen Hauptstadt ankommt, soll sie von einem Pfarrer am Bahnhof abgeholt werden. Da ihr Zug allerdings stark verspätet ist, ist niemand mehr dort. Sie schafft es auf eigene Faust, das „Chapel Hospital“ ausfindig zu machen und wird von einem sehr erleichterten Pfarrer empfangen. Auch in England meint es das Schicksal gut mit ihr: Ursula Schmitz trifft wieder auf einen Schlesier, der sie im Alltag unterstützt. In der multikulturellen Großstadt London lernt die Studentin eine ganz neue Welt kennen: rote Doppeldecker-Busse, Studenten aus der ganzen Welt und „The Royal Family“. Besonders bewundert sie die neu gekrönte, gleichaltrige Königin Elisabeth.

Ihren Abschluss macht Ursula Schmitz 1953. Zwei Jahre später kaufen ihre Eltern ein Haus in Lüdenscheid. Ursula Schmitz findet einen Job in Duisburg, später in Lüdenscheid, Essen und in der Kinderklinik Gelsenkirchen. Erneut soll das Schicksal der Ärztin gottgewollt sein: An den verschiedenen Arbeitsorten begegnet sie immer aufs neue Schlesiern, die ihr weiterhelfen. Ursula Schmitz denkt nach: „In meinem Leben kann ich die Spuren Gottes lesen. Gott muss gewollt haben, dass ich diesen netten Menschen begegne.“ Als Ursula Schmitz eine Stelle in einer Kinderklinik bekommt, kann sie endlich mit dem Herzen arbeiten: „Kinder muss man beobachten, nicht Fragen. Um Kinder zu verstehen, braucht man eine gewisse Begabung.“

1960 heiratet die Ärztin einen verwitweten Zechenbaudirektor aus Wuppertal. „Die Zeche hat zwar immer viel Dreck und Staub mit sich gebracht, aber dann wurde halt gewaschen“ scherzt Ursula Schmitz. „Hermann war ein von Grund auf ehrlicher und anständiger Mann. Er hatte meine höchste Achtung und meinen höchsten Respekt.“ Der Witwer ist 18 Jahre älter als seine neue Frau und bringt drei Kinder mit in die Ehe. Nun möchte auch Ursula Schmitz Mutter werden. Sie bekommt eine Tochter und einen Sohn, möchte aber auch ihren Beruf nicht aufgeben. Die Eltern der jungen Mutter ziehen mit in das Haus des Baudirektors. Sie sind glücklich, jetzt Großeltern zu sein. Ursula Schmitz kann 1969 im selben Haus eine Kinderarztpraxis eröffnen, sich so um ihren Job und um ihre Familie gleichzeitig kümmern. Sie ist zu Hause bei der Arbeit, sozusagen. Dass sich der Aufwand um den Studienplatz rentiert hat, sehen ihre Eltern jetzt ein und unterstützen ihre Tochter bis zum eigenen Tod 1972.

Als das Zechensterben und eine Ölkrise beginnen, bricht eine harte Zeit für ihren Hermann an. Der Baudirektor muss mit eigener Hand abreißen, was er sich einst aufgebaut hat. Das macht ihren verantwortungsvollen Mann krank, er bekommt einen Herzinfarkt und stirbt 1980, erzählt die Witwe.

Ihre Arztpraxis schließt Ursula Schmitz 1987. Ihre Kinder sind inzwischen längst ausgezogen. Jetzt hat die 62-Jährige keine Verpflichtungen mehr und kann das tun, was sie schon immer machen wollte: Ursula Schmitz reist insgesamt sechsmal mit der Organisation German Doctors als Missionarärztin auf die Philippinen. „Ich habe im Dreck der Slums von Manila gelebt und gearbeitet. Die Lebensumstände dort waren elendig. Zu Beginn hatte ich einen Kulturschock. Aber ich konnte Menschen helfen. Darauf kommt es schließlich an. Das hat mich glücklich gemacht.“ Bis 1999 dauern die Reisemissionen der Rentnerin an.

 In ihrem Wohnzimmer erinnern etliche Familienfotos an die Vergangenheit.

In ihrem Wohnzimmer erinnern etliche Familienfotos an die Vergangenheit.

Foto: Bauch, Jana (jaba)
 Ursula Schmitz zeigt ihr Hochzeitsdatum in einer Bibel.

Ursula Schmitz zeigt ihr Hochzeitsdatum in einer Bibel.

Foto: Bauch, Jana (jaba)

Anschließend kehrt Ursula Schmitz nach Gelsenkirchen zurück, wo sie bis 2013 lebt. Die Seniorenresidenz am Park Lobberich wird danach zum neuen Heim, da sich ihre Kinder in Nettetal niedergelassen haben. „Mein Weg wird immer weiter gehen. Breslau, meine Heimat, ist für mich verloren, weil meine liebgewonnenen Menschen nicht mehr dort leben“, sagt sie. „In meinem Herzen jedoch lebt Breslau weiter.“

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