Polizisten schreiben Buch über Beginn der Flüchtlingskrise "Die Österreicher haben alle durchgelassen"

Drei Kölner Bundespolizisten waren im Herbst 2015 an der Grenze zu Österreich eingesetzt und dort erste Ansprechpartner für Tausende Flüchtlinge. Über ihre Erfahrungen haben sie ein Buch geschrieben. In "Mittendrin!" räumen sie mit Vorurteilen auf, beschreiben aber auch unschöne Momente. Wir haben mit zwei der Autoren gesprochen.

 Philipp Franke (l.) und sein Kollege Dirk Conrads vor dem Kölner Dom.

Philipp Franke (l.) und sein Kollege Dirk Conrads vor dem Kölner Dom.

Foto: Claudia Hauser

Philipp Franke (33) und Dirk Conrads (44) gehören wie der dritte Autor des Buches, Marcel Hodenius (28) zu einer Mobilen Kontroll- und Überwachungseinheit der Bundespolizei. Das Buch haben sie in ihrer Freizeit geschrieben, die Idee dazu entstand in einer Bar in Bayern, beim Bier nach einer von vielen Zwölf-Stunden-Schichten an der Grenze.

Herr Franke, Herr Conrads, was genau war Ihre Aufgabe bei den Grenzkontrollen in Ering bei Passau?

Franke Es ging vor allem darum, den Menschen zu helfen, ihnen warme Kleidung zu geben, eine Infrastruktur zu schaffen, damit sie weiterreisen konnten. Das war am Anfang sehr chaotisch. Die Menschenmassen standen da, es mussten aber noch Hallen aufgebaut werden, Verpflegungsstationen, Kleiderausgaben. Wegen des großen Andrangs haben wir die Flüchtlinge nur überprüft und dann auf Busse verteilt, registriert wurden sie später in Passau.

Conrads Alles war wahnsinnig unorganisiert. Die Österreicher haben alle durchgelassen nach dem Motto: Hauptsache weg aus Österreich. So war es jedenfalls am Anfang.

 Cover des Buchs "Mittendrin" (um das volle Cover zu sehen, klicken Sie bitte auf "Vergrößern").

Cover des Buchs "Mittendrin" (um das volle Cover zu sehen, klicken Sie bitte auf "Vergrößern").

Foto: Verlag

An welche Situationen erinnern Sie sich besonders gut?

Franke Das sind oft die kleinen Momentaufnahmen. Ein junger Mann hat ein T-Shirt in Österreich bekommen mit der Aufschrift "Leider geil". Wir mussten lachen und haben ihm erklärt, was das heißt. Er freute sich und sagte, das würde ja passen, weil er sein Ziel bald erreicht habe. Er war für einen Moment der Held der Gruppe, alle haben ihn kurz mal abgefeiert, mit ihm gelacht.

Und was bleibt als tragisch in Erinnerung? Was hat Sie beeindruckt?

Conrads Es gab ja viele alleinreisende Jugendliche. Da war ein 16-Jähriger aus Syrien, der einen alten Mann jenseits der 80 im Rollstuhl geschoben hat. Das Ding sah aus wie aus den 1930er Jahren, aber der Junge hat den Mann den ganzen weiten Weg bis nach Europa begleitet. Manche haben sich Kleinkinder geschnappt, um schneller in einen Bus zu kommen, sie dann einfach sich selbst überlassen. Auch daran denkt man immer wieder.

Franke Das Schlimmste war eine Situation mit einem Baby. Wir haben Kindergeschrei gehört und haben in der Halle einen Schrank aufgemacht, da lag ein Baby. Das hatte einfach jemand da abgelegt.

Wo waren die Eltern?

Conrads Wir wussten nicht, wo es herkam. Vielleicht sind die Eltern auf der Flucht gestorben und jemand anders hat es an sich genommen. Der Bus war jedenfalls weg, das Kind wurde nicht vermisst, es hat sich nie jemand gemeldet. Wir haben es in die Obhut des Jugendamts gegeben.

Franke Wir hatten oft das Gefühl, dass Kinder als Mittel zum Zweck benutzt werden. Manche hatten Narben auf der Brust, wie nach einer Herzoperation. Die Familien wurden dann bevorzugt behandelt, schneller durchgelassen. Die Ärzte der Bundeswehr haben uns dann erzählt, dass es keine Operationsnarben waren, sondern den Kindern absichtlich zugefügt wurden, um der Familie gewisse Vorteile zu sichern. Das zeigt aber natürlich auch, wie verzweifelt manche waren.

Im Buch beschreiben Sie eine Situation, in der ein junger Syrer seinen Bruder sucht.

Conrads Ja, da wollte ein Mann nicht in den Bus, was sehr untypisch war. Wir haben ihn gefragt, was los sei. Es stellte sich heraus, dass er seinen Bruder identifizieren sollte, er hatte ein Schreiben dabei. Der Bruder sei auf der Flucht aufgegriffen worden. Er selbst wollte gar nicht nach Deutschland. Wir dachten: Wer weiß, wo der Bruder festgehalten wird, vielleicht auf irgendeiner Polizeistation. Der Mann dachte, sein Bruder hätte eine Straftat begangen. Ich habe dann rausgefunden, dass der Bruder tot ist.

Was war passiert?

Conrads Man hat ihn unter einer Autobahnbrücke gefunden, da muss er schon einige Wochen gelegen haben. Man hat uns Bilder gefaxt, die wollten wir dem Bruder aber nicht zumuten. Aber wir mussten ihm sagen, dass er seinen Bruder nicht abholen kann, sondern dass er seine Leiche identifizieren soll. Das Schreiben war einfach missverständlich übersetzt. Er saß dann eine ganze Stunde da und hat geweint. Dann ist er über Österreich wieder zurück in seine Heimat.

Haben Sie erlebt, dass Flüchtlinge sich als Syrer ausgeben, um nicht abgewiesen zu werden?

Franke Ja, es hat sich schnell rumgesprochen, dass Syrer als Kriegsflüchtlinge eine große Chance auf Asyl haben. Manche haben ihre Pässe zerrissen. Oft kam es dann raus, weil ein Dolmetscher gemerkt hat, dass die Sprache oder der Dialekt nicht passt.

Was sagen Sie zu der Befürchtung vieler, es könnten Terroristen unter den Flüchtlingen sein?

Franke Berichte vom Verfassungsschutz und anderen Sicherheitsbehörden zeigen leider, dass die Sorge begründet ist. Vier der Paris-Attentäter hatten sich ja als syrische Flüchtlinge ausgegeben. Für uns war an der Grenze natürlich schwer festzustellen, ob jemand eine islamistische Gesinnung hat.

Conrads Wir waren aber sensibilisiert für Symbole des Islamischen Staats und haben den Behörden gemeldet, wenn wir sie bei jemandem entdeckt haben. Ob sich diese Verdachtsfälle erhärtet haben oder nicht, haben wir nicht erfahren.

Sie haben Tausende Flüchtlinge getroffen. Im Buch gehen Sie auch auf das Vorurteil ein, viele kämen nur, um das deutsche Sozialsystem auszunutzen.

Conrads Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass die meisten Menschen vor Krieg und Terror geflohen sind. Ihre Geschichten waren oft kaum zu ertragen. Für uns ist schwer vorstellbar, dass jemand alles zurücklässt und eine derart beschwerliche Reise auf sich nimmt, nur um hier von weniger als Hartz-IV-Leistungen zu leben.

Mit Philipp Franke und Dirk Conrads sprach Claudia Hauser.

(hsr)
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