Italien Vom Steinzeit-Slum zum Touristenmagnet

Einst galten die Felshöhlen von Matera als „Schandfleck Italiens“. Seit 1993 ist die Stadt Weltkulturerbe, dieses Jahr ist sie sogar Kulturhauptstadt Europas. Die Besucher erwarten im Festjahr ein dichtes Programm und ein Hauch von Abenteuer.

 Eindrucksvolle Kulisse: Regisseur Pier Paolo Pasolini nutzte die „Sassi“ genannten Höhlensiedlungen in der Oberstadt als Drehort für seine Verfilmung des Matthäus-Evangeliums.

Eindrucksvolle Kulisse: Regisseur Pier Paolo Pasolini nutzte die „Sassi“ genannten Höhlensiedlungen in der Oberstadt als Drehort für seine Verfilmung des Matthäus-Evangeliums.

Foto: Stefanie Bisping

Das Leben der ehemaligen Höhlenbewohner

Hinter dem Esstisch war der Esel angebunden. Seine Futterkrippe war in die Wand geschlagen. Die unterste Schublade der Kommode diente als Kinderbett. Ein Bett mit Strohmatratze und Dach, auf dem größere Kinder schliefen, davor eine Wiege für den jüngsten Nachwuchs und ein Engel an der Wand vervollständigten das Interieur der Höhle, die heute ein Museum ist. Wenn die Hitze des Sommers kalten, klammen Wintern wich, hielten die Menschen die Tür geschlossen und lebten in Matera ohne natürliches Licht, gebeutelt von Schimmel und Feuchtigkeit, unter einem Dach mit ihrem Vieh.

Von vorchristlicher Zeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts lebten Menschen in der Schlucht unter Bedingungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte kaum veränderten. Nur wenigen Bewohnern gelang der Aufstieg in die zivilisierte Welt der Oberstadt. In den 50er Jahren wurden die rund 20.000 Höhlenbewohner schließlich zwangsumgesiedelt, nachdem die katastrophalen Zustände in der Höhlenstadt durch Carlo Levis Buch „Christus kam nur bis Eboli“ bekannt geworden waren. Der Künstler, Autor, Arzt und Antifaschist aus Turin war 1935 in die Region Basilikata, die noch Lukanien hieß, verbannt worden. Seine Beobachtungen verarbeitete Levi später in dem Buch, das die Verhältnisse im Süden schonungslos beschreibt – das Leben in Materas Höhlen verglich er mit Dantes Hölle.

Vom Schandfleck zum Weltkulturerbe

Die Regierung wollte dies nicht auf sich sitzen lassen – Ministerpräsident Alcide De Gasperi sprach gar vom „Schandflecken Italiens“ – und baute für die Menschen aus den „Sassi“ genannten Höhlensiedlungen Wohnhäuser in der Oberstadt. Nach der Umsiedlung standen die durch Treppen miteinander verbundenen Höhlen leer, bis sie in den sechziger Jahren von Hippies entdeckt wurden – und vom Regisseur Pier Paolo Pasolini, der sie als Drehort für seine Verfilmung des Matthäus-Evangeliums nutzte. Seither ist die jahrtausendealte Siedlung in eine Art Zeitbeschleuniger geraten. Als die „Sassi“ von Matera 1993 Weltkulturerbe wurden, begann Geld für Sanierungsprojekte zu fließen. 2004 drehte Mel Gibson hier „Die Passion Christi“ – die Schlucht mit den Höhlenhäusern gab darin wieder das Heilige Land zur Zeitenwende. Der Film sorgte für einen spürbaren Anstieg der Besucherzahlen. Sie explodierten geradezu, als Matera 2014 – neben Plowdiw in Bulgarien – den Zuschlag für den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt erhielt.

„Open Future“ lautet das Motto Materas fürs Festjahr. Es basiert auf der Überzeugung, dass die Stadt dank ihres (sozial-)historischen Erbes eines der großen Kultur-Ziele Europas werden kann. Sie will sogar der ganzen Basilikata den Weg in die Zukunft weisen, ganz so, wie sie sich selbst am eigenen Schopf aus dem Elend zog. So überzeugend war ihre Bewerbung, dass sie beim italienischen Vorentscheid um den Titel arrivierte Mitbewerber wie die apulische Barockstadt Lecce, das toskanische Siena und das mit reichem byzantinischen Erbe gesegnete Ravenna hinter sich ließ.

Stolz und Scham

Matera musste zuvor aber auch die eigene Vergangenheit aufarbeiten. Die Zwangsumsiedelung in die Oberstadt hinterließ bei vielen ehemaligen Höhlenbewohnern Wunden. Sie schämten sich einer Vergangenheit, die sie nicht verschuldet hatten, und sprachen mit ihren Kindern nie über die Heimat, die sie allem Elend zum Trotz – immer wieder brachen Krankheiten wie Cholera aus, die Kindersterblichkeit lag Mitte des 20. Jahrhunderts bei 50 Prozent – in der Schlucht zurückgelassen hatten.

Bei der Familie Rizzi war das anders. „Meine Mutter erzählte uns viel von früher, zum Beispiel, dass ihre Bettdecke morgens immer nass von der Feuchtigkeit in der Höhle war“, sagt Piero Rizzi. Tatsächlich zählten Feuchtigkeit und Schimmel zu den größten Plagen in der Schlucht. Piero und sein Bruder Enrico wurden bereits in der Oberstadt geboren. Heute stellen sie mit Vater Eustachio in einer sorgfältig restaurierten Höhle im Sasso Barisano Skulpturen aus Tuff her und verkaufen sie. Die ganze Schlucht mitsamt ihren Höhlen, Treppen und Felsenkirchen hat Vater Eustachio hier als Miniatur nachgebaut.

Der Wandel Materas

Auch in anderen Höhlen sind Geschäfte, aber auch kleine Hotels und Restaurants entstanden. Und überall wird fieberhaft gehämmert und gearbeitet. Weil die Sanierung der uralten Höhlenhäuser langwierig ist – alle Materialien müssen über die einzige befahrbare Straße in die Schlucht transportiert und von dort mit Schubkarren an ihren Bestimmungsort gebracht werden – , und weil Matera zuvor buchstäblich keine Infrastruktur besaß, erwiesen sich die vier Jahre Vorlaufzeit seit der Bekanntgabe der Würdenträger für 2019 als kurz. So wird nicht alles fertig bis zum Beginn des Festjahres – weder die neue Straße, die Matera mit Bari in Apulien und dem Rest der Welt verbinden soll, noch die Erneuerung des Bahnhofs, für die allerdings Bari als Hauptstadt der Region zuständig ist. Vor allem der Bahnhof ist wichtig, denn die Schmalspurbahn, die Matera bislang an Bari anschließt, braucht für die sechzig Kilometer zwei Stunden. Trotz der Verzögerungen beim Ausbau der Infrastruktur ist die ganze Stadt wie elektrisiert – vor Freude, ein wenig aber auch vor Angst.

Denn auch bei den Unterkünften dürfte es eng werden, wenn sich die erwartete Million Besucher im Lauf des Jahres in der 60.000-Einwohner-Stadt einfindet. Bislang gibt es nur rund 25 Hotels mit mehr als 15 Zimmern; dazu eine Vielzahl kleiner Pensionen und Apartments, von denen viele nicht offiziell registriert sind. Die gesamte Provinz Matera verfügt über 5000 Hotelzimmer; hinzu kommen Pensionen, Wohnungen und Campingplätze. „Seit zwei, drei Jahren ist es an Terminen wie Silvester sehr eng, die Besucher weichen dann bis nach Bari aus“, sagt eine in Deutschland aufgewachsene Italienerin, die in Matera in einem Hotel arbeitet. Es lohne sich also, beizeiten zu buchen. „Der Titel ist eine gute Gelegenheit für Matera, die leider nicht gut umgesetzt wird“, bemängelt die deutschitalienische Rezeptionistin. Es gebe zu wenig Parkplätze, zu wenig öffentliche Toiletten und die städtische Müllabfuhr schaffe es nicht einmal, jeden Morgen die überquellenden Mülleimer in der Altstadt zu leeren.

Die geplante Eröffnungsfeier

Zur Eröffnungsfeier am
19. Januar werden daher auch keine leisen Töne angeschlagen. Den Auftakt bildet ein traditionelles süditalienisches Fest, an dem über 100 Kapellen aus der Basilikata sowie aus 27 europäischen Kulturhauptstädten der Vergangenheit teilnehmen. Genau 2019 Musiker werden zum Spektakel erwartet. Im Lauf des Jahres folgen Konzerte in Felsenkirchen, außerdem zählen ein Skulpturenpark in einem Steinbruch und ein Theater im Tuffsteinbruch Cava del Sole zu den geplanten Projekten. Wer es schafft, sich ein Zimmer in einem Höhlen-Hotel zu sichern, braucht heute keine Feuchtigkeit mehr zu fürchten. Einzig die Stille ist geblieben: Nachts ist – außer bei der Eröffnungsfeier – kein Geräusch zu hören.

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