Von Rennschnecken und Amischlitten

Eben noch totgesagt, kickt Opel nun Chevrolet vom europäischen Markt. Eine Traditionsmarke, die wie kaum eine andere für das amerikanische Auto steht. Liebhaber digital animierter Schnellschnecken hätten diese Entwicklung vorhersehen können.

Angenommen, eine durchschnittliche Gartenschnecke gerät in den Ansaugtrakt eines getunten Chevrolet Camaro. Wird sie dann zu einem unappetitlichen Etwas zerquetscht und durch den Auspuff wieder ausgehustet? Wenn es nach den Machern des Animationsfilms "Turbo" geht, ist das Gegenteil der Fall: Sie zapft die DNA des Chevy an und gewinnt Superkräfte, die sie zur Schnellschnecke machen. Künftig wird sie jeden Camaro abhängen und sogar auf Rennstrecken siegen.

Das mag eine verrückte Idee sein – und doch nahm der Film der Dreamworks-Studios im Grunde die aktuelle Entwicklung auf dem deutschen Markt vorweg. Der amerikanische Mutterkonzern GM zieht 2016 die Schwestermarke Chevrolet aus Europa zurück. Stattdessen wolle man in Europa von einer größeren Stärke von Opel und Vauxhall profitieren, gab GM-Chef Dan Akerson bekannt. "Das erlaubt uns, unsere Investitionen für Chevrolet dort zu fokussieren, wo die Wachstumsmöglichkeit am größten ist."

Die Schnecke mit dem Namen "Turbo" hätte genauso gut Opel heißen können. Im Film lässt sie den bärenstarken Chevrolet alt aussehen und siegt ausgerechnet in Indianapolis, dem "Heart of American Racing", in das der Hersteller gerade erst als Motorenlieferant zurückgekehrt ist. Opel gegen Chevrolet – das war in der Vergangenheit ein ungleicher Kampf. Hier die kleine deutsche General Motors-Tochter, die sich dem Willen der Konzernzentrale zu beugen hatte. Dort die mächtige Marke Chevrolet, die gerade in Europa wie kaum eine andere für den sprichwörtlichen Straßenkreuzer oder Ami-Schlitten schlechthin stand. Bis im Jahr 2005 jemand auf die Idee kam, das Chevrolet-Logo ausgerechnet an koreanische Daewoo-Erzeugnisse zu pappen. Das brachte einerseits das Image ins wanken, war aber vom Konzept her so erfolgreich, dass es einmal mehr Opel in Bedrängnis brachte. Und nun der Rückzug – dorthin wo alles angefangen hat, nach Amerika.

Ausgerechnet ein aus der Schweiz stammender Mann mit französisch klingendem Namen legte dort Anfang des 20. Jahrhunderts den Grundstein für die vielleicht amerikanischste aller amerikanischen Automarken. Der 1878 geborene Louis Chevrolet gründete 1911 seine Firma und baute Autos, mit denen er dem legendären T-Modell von Ford Konkurrenz machen wollte. Mit einigem Erfolg: Vom Erstling Chevrolet Classic Six setzte er zwischen 1912 und 1914 immerhin rund 10 000 Exemplare ab.

Schon 1918 kaufte General Motors die Chevrolet Motor Company und formte sie zur Volksmarke. Bis zum Ende der 1920er-Jahre hatte Chevrolet den ewigen Marktführer Ford vom Spitzenplatz verdrängt. Überraschend daran: Während Chevy heute auch als Synonym für mächtige V8-Motoren aus den USA gilt, stand man zunächst solchen Motoren ablehnend gegenüber. Sogar viele Jahre und Jahrzehnte – erst 1954 wurde der erste Achtzylinder der Marke eingeführt.

Genau zu jener Zeit begann auch der endgültige Aufstieg Chevrolets zu einer amerikanischen Ikone. Ein Jahr zuvor hatte man 1953 die erste Generation des heute legendären Sportwagens Corvette präsentiert. Gleichzeitig gingen die Modelle der Bel Air-Reihe an den Start, die über viele Generationen und nicht zuletzt durch den Einsatz in unzähligen Hollywoodfilmen zum weltweiten Synonym der amerikanischen Familienkutsche werden sollten.

Doch ein wirklicher Vorreiter war die Marke Chevrolet im Grunde nie. Ihr Erfolgsrezept bestand darin, dass sie Antworten auf Ideen der Konkurrenz gab – oft richtige, manchmal auch falsche. Nicht wirklich richtig war etwa der Chevrolet Corvair von 1959 als Antwort auf den VW Käfer: Ein Auto in großzügigem US-Format mit luftgekühltem Heckmotor. Berühmt und berüchtigt wurde der Corvair vor allem wegen seines Fahrverhaltens, das sich bestenfalls als gewöhnungsbedürftig bezeichnen ließ.

Die meisten Antworten gab Chevrolet jedoch auf Ford-Aktivitäten: Führte der Konkurrent ein neues Mittelklassemodell ein, zog man nach; feierte Ford mit einem Sportwagen Erfolge, musste ebenfalls einer her. Viele diese Modelle sind heute kaum mehr der Rede Wert. Doch Chevrolets Antwort auf den Ford Mustang wurde ebenfalls zu einem Klassiker: der Camaro. Dieses Modell wird künftig wie auch die Corvette vermutlich allein das Chevrolet-Banner in Europa hochhalten müssen. Denn ab 2016 will man hier allein jene Fahrzeuge anbieten, die der Europäer als echte US-Ikonen ansieht. Das sind die Fakten – aber warum diese Fakten nun Fakten sind, dazu zucken selbst ausgewiesene Experten nach der Bekanntgabe der Pläne immer noch mit den Schultern. "Wir haben das mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Das ist schon ein Kracher", sagt etwa Andreas Bremer vom IfA Institut für Automobilmarktforschung. Überrascht zeigt sich Bremer vor allem vor dem Hintergrund, dass General Motors in den vergangenen Jahren sehr viel Geld in die Wandlung von Daewoo zu Chevrolet steckte. Es wurde reichlich Werbung gemacht, für teures Geld ein Händlernetz installiert. Nun sei er gespannt, wie das Unternehmen mit den Händlern umgehen wird – schließlich beraubt der Sinneswandel sie ihrer Existenzgrundlage.

In Rüsselsheim dagegen dürfte man sich die Hände reiben, ist vielleicht auch stolz auf eventuell geleistete Lobbyarbeit im Hintergrund. Die Schnellschnecke mit der reichlich aufgesogenen Chevrolet-DNA hat ihren Garten nun wieder ganz für sich allein.

(RP)
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