Essen Leiser Schock: Debussy in Essen

Essen · Der Komponist Claude Debussy besaß eine sehr große Vorliebe für Edgar Allan Poe, für symbolistische Szenarien jenseits der Realismus-Grenze – und wenn es dabei verworfen zuging, umso besser. Seine Oper über den "Untergang des Hauses Usher" konnte Debussy zwar nicht mehr vollenden, aber Maurice Maeterlinck hatte Debussy in "Pelléas et Mélisande" ebenfalls einen sehr düsteren Stoff vorgelegt, in dem es maximal geheimnisvoll zugeht. Junge Frau kommt aus dem Nirgendwo, stirbt am Ende ohne Ursache, zwischendurch ereignet sich ein Eifersuchtsdrama, und immerzu changiert die Handlung ins Mysteriöse.

Und dann diese Musik!, möchte man im Essener Aalto-Theater ausrufen – mit ihrem unendlich differenzierten Timbre von nachtgrauen bis zu mittagsgrellen Beleuchtungsstufen, mit ihrem verfeinerten Begleiten der Sprechmelodien, mit ihrer Erhabenheit des Parallelkommentars oder des metaphysischen Kranzes. Stefan Soltesz gelingt am Pult der exzellenten Essener Philharmoniker eine seiner besten Leistungen überhaupt: eine Feier der Nuance, ohne die dramatischen Konsequenzen zu dimmen, eine Aufmerksamkeit gegenüber den Sängern, ohne die Autonomie des Orchesters zu leugnen.

Bei den durchweg trefflichen Solisten setzt sich die Kompetenz für Debussy fort: Michaela Selinger ist eine faszinierende Mélisande, keine verhärmte Nixe aus einem vokalen Tümpel, sondern ein prangender Leuchtstern, der vom Himmel in ein Totenhaus gefallen ist. Vincent Le Texier gibt einen herrischen, maskulinen Golaud, wogegen Jacques Imbrailo als Pelléas die pubertäre Seite der Männlichkeit auch stimmlich ansprechend präsentiert. In Wolfgang Schöne ist ein gutmütiger Arkel zugegen, in Doris Soffel eine beinahe verlebte Geneviève. Der kleine Dominik Eberle Martinez als Knabe Yniold sollte allerdings vor solistischen Opernplänen vorerst bewahrt bleiben.

Regisseur Nikolaus Lehnhoff gelingt in einem bürgerlich-adeligen, von dunklem Holz gewürzten Ambiente (Raimund Bauer) eine sehr schöne Vermählung von Drastik und Psychologismus. Dass die Figuren gleichsam in die Szenen schwebten, zählte zu den lauten Pluspunkten einer leisen Inszenierung, die auf atmosphärische Zärtlichkeit der Personenführung setzte. Die Idee des Lichtschachts war wahrhaft blendend.

Andererseits vermeidet Lehnhoff alles impressionistische Raunen. Sogar der verbotene Kuss zwischen Mélisande und Arkel besitzt den Rang eines behutsamen Schocks. Insgesamt erleben wir – wie in der Musik – einen sprechenden szenischen Dialog von Licht und Schatten, von Freiheit und Enge. Herzlicher Beifall.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort