Eine Analyse zur Lage des Kontinents Europa steckt in der Identitätskrise

Düsseldorf · Europa sei mehr als nur eine Freihandelszone, sagt der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und erinnert an die Errungenschaften der Aufklärung. Mitten in der Finanzkrise wird Europa als Wertegemeinschaft wiederentdeckt.

Die Reaktionen auf die Vergabe des Friedensnobelpreises an die EU
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Foto: afp, PHILIPPE HUGUEN

In der Krise werden Wahrnehmungen geschärft. Auch darum können Krisen nach einer ersten Phase panischen Reagierens zu Erkenntnisbeschleunigern werden. Mitten in der Finanz-, Banken- und Länderkrise ist in der Europäischen Union dabei ein Blick auf die Anfänge dieser Gemeinschaft erwachsen, auf ihre Wurzeln und schließlich auf die prekäre Frage, was europäische Identität eigentlich ausmacht. In diesem Sinne hat sich die EU gewissermaßen niedergelegt zur ersten Sitzung ihrer eigenen Psychoanalyse.

Und dabei geht es ans Eingemachte. Denn für den bekannten niederländischen Publizisten Geret Mak — immerhin Träger des Buchpreises zur Europäischen Verständigung — haben wir es derzeit keineswegs mit einer gewöhnlichen Krise zu tun. Er erkennt einen Übergang in eine andere historische Phase, zu der auch gehört, dass die amerikanische Hegemonie zerbröckelt, China als Weltmacht emporsteigt und der Traum von Europa zu verblassen beginnt. Was die Menschen Europas nach 1945 zu den Gründungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Europäischen Gemeinschaft und schließlich der Europäischen Union tatsächlich trug, war ein Zauberwort: endlich Frieden! Das eigentliche Wunder aber ist, dass nach dem Zeitalter der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, nach den Fehlern einer Neuordnung mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und den blutigen Schlachtfeldern, Bombardements und furchtbaren Konzentrationslagern des Zweiten Weltkriegs der Idealismus siegte. Dieser Kontinent durfte — mit Ausnahme des Jugoslawienkrieges — über sechs Jahrzehnte lang in Frieden leben. Bis heute.

Wobei selbst das aktuelle Gefühl der Ohnmacht für viele Intellektuelle auch angesichts dieser historischen Leistung eine beschämende Vorstellung ist. Unsere Sorge gilt dem Triple-A-Status. Und auch wenn es in den ärmeren Ländern der Union mittlerweile weit bedrohlicher zugeht und die Folgen wirtschaftlicher Einbrüche dramatisch sind, so lebt Europa nach den Worten Geert Maks im Vergleich mit der übrigen Welt in Wohlstand. Stattdessen mehren sich die Unkenrufe, dass mit der Finanzkrise und unerfüllten wirtschaftlichen Verheißungen für alle Bürger die Legitimation der EU verloren gegangen ist. Die Frage nach der ökonomischen Wahrheit der Gemeinschaft wird so zu einer Frage auch nach der politischen Wahrheit.

Zumindest in der gemeinsamen Währung lässt sich beides nicht mehr voneinander trennen. Denn der Euro gilt heute als eine Art Kuhhandel zwischen Deutschland und Frankreich. Deutschland erklärte sich bereit, die D-Mark aufzugeben, dafür unterstützte Frankreich die Deutschen bei der Wiedervereinigung von Ost und West. Der Zusammenschluss beider deutscher Staaten besiegelte indes nicht nur das Ende der DDR und der alten Bundesrepublik, sondern im Gefolge auch den Kalten Krieg. Daraus ist ein Sieger hervorgegangen, den wir, so der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg, "lange nicht bemerkt haben, weil wir seine Komplizen waren, bevor wir seine Geiseln wurden: Es ist der globalisierte Markt, dessen Herrschaft solider fundiert ist als jedes politische System."

Europa als "Zivilisationsprojekt"

Das alles klingt kaum noch nach einer Wertegemeinschaft, die Europa nicht "auch" noch ist, sondern von Grund auf war. Von einer "politischen Enteignung" spricht Hans Magnus Enzensberger, und ganz ähnlich hört es sich jetzt auch beim SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel an: Europa sei mehr "als eine bloße Freihandelszone", es ist ein "Zivilisationsprojekt", schreibt er in einem Gastbeitrag für die "FAZ". Er prangert die Macht der Rating-Agenturen an und singt stattdessen das hohe Lied der europäischen Aufklärung. An Voltaire wird erinnert, an Immanuel Kant gemahnt. Und: "Nur wer bereit ist, die gegebenen Zustände entlang von Werten und Prinzipien grundlegend progressiv zu verändern, überschreitet die Grenzen der Realpolitik." Das sind hehre und mit der Absage an realpolitisches Handeln auch mutige Worte, die kaum wahlkampftauglich sein dürften.

Doch Europa scheint es nicht nur an Ideen für Europa zu fehlen, sondern auch an einer Idee von Europa. Wie leicht führen wir den Namen des Kontinents im Munde und verknüpfen ihn mit Demokratie und Gewaltenteilung, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Doch was eine europäische Identität ist und was sie ausmacht, stellt uns vor weit größere Probleme. Weil dieses Europa keine klaren Grenzen kennt und es dadurch keine natürliche Einheit bildet. "Was Europa ist, das bestimmen von jeher die Europäer selbst", so der Bonner Rechtsgelehrte Josef Isensee. Seiner selbst bewusst wird sich dieser geschmeidige Kontinent allein durch seine Geschichte und seine geistigen Kräfte, durch das Christentum zumal. Die Frage nach der Identität wird so gesehen eindeutig kaum zu beantworten sein. Das entbindet uns aber nicht von der schöpferischen Notwendigkeit, diese Frage immer und immer wieder an uns selbst zu richten.

Wertegemeinschaft oder wirtschaftlicher Zweckverband? Gemeinschaft der Nationen oder supranationales Gemeinwesen? Letzteres fordern seit geraumer Zeit gerne radikale Denker wie Jürgen Habermas ein. Die Zukunft sieht der Philosoph in einem europäischen Bundesstaat, der prinzipiell erweitert werden müsse. Seine Überlegung: Je mehr Staaten bei weltpolitischen Entscheidungen eingebunden werden, desto größer dürfte die Wahrscheinlichkeit sein, Lösungen zu finden, die für alle annehmbar sind. Und die EU-Politikerin Viviane Reding träumt gar von den Vereinigten Staaten von Europa und ist froh, damit Victor Hugo aus dem 19. Jahrhundert zitieren zu können. Die Zukunft Europas wird immer nur aus seiner Geschichte geboren werden können — seiner Geistes- und Mentalitätsgeschichte.

(RP/felt)
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