Analyse Sorge über neuen Antisemitismus

Berlin · Alarmierendes zum Holocaust-Gedenktag: "Jude" gilt als als Schimpfwort auf Schulhöfen, jüdische Mitbürger sollen bestimmte Orte meiden, Zeitzeugen sterben aus – ein Gespräch mit Zentralratspräsident Dieter Graumann.

Analyse: Sorge über neuen Antisemitismus
Foto: ap, Markus Schreiber

Alarmierendes zum Holocaust-Gedenktag: "Jude" gilt als als Schimpfwort auf Schulhöfen, jüdische Mitbürger sollen bestimmte Orte meiden, Zeitzeugen sterben aus — ein Gespräch mit Zentralratspräsident Dieter Graumann.

Verstört kehrte Daniil Granin nach seinen Erlebnissen in Deutschland in seine Heimatstadt St. Petersburg zurück: Deutsche Schüler hatten dem russischen Schriftsteller berichtet, dass ihres Wissens nach Deutschland im Zweiten Weltkrieg zusammen mit den Alliierten gegen Russland gekämpft und die Russen dann den Krieg verloren hätten.

Solche fatalen Fehlvorstellungen machten deutlich, wie wichtig das Wachhalten an die deutschen Verbrechen im Nationalsozialismus ist. Freilich: Diese Erlebnisse sind 20 Jahre alt. Nun steht Granin wieder im Mittelpunkt des Gedenkens. Er hält heute als Zeitzeuge die Rede im Bundestag zum Holocaust-Gedenktag. Granin war bei der Blockade Leningrads durch deutsche Truppen noch selbst dabei. Denn er ist 95 Jahre alt.

Das Beispiel zeigt, dass sich die Organisatoren des Holocaust-Gedenkens auf immer weniger Zeitzeugen stützen können. "Deswegen ist es umso wichtiger, diese Zeit zu nutzen und so viele Überlebende wie möglich zu Vorträgen in Schulen einzuladen", sagt Dieter Graumann, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland.

Die Erinnerung wachzuhalten, sei eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft: "Wir alle stehen in der Pflicht." Er geht davon aus, dass in Zukunft die Kinder der Überlebenden besonders gefragt sein werden. "Wir können allerdings nicht im gleichen Maß Authentizität schaffen wie die Zeitzeugen." Gleichzeitig ergebe sich die Aufgabe, "vielfältige Formen des Gedenkens" zu entwickeln.

Feste Gedenktage und Erinnerungsorte seien sicherlich sinnvoll. "Mir ist ritualisiertes Gedenken lieber als planvolles Vergessen", betont Graumann. Bei Jugendlichen sollte man wegkommen von abstrakten Zahlen und kalten Daten. "Bei ihnen erreichen wir viel mehr, wenn sie sich mit konkreten Einzelschicksalen befassen, etwa in der Nachbarschaft ihrer Schulen", sagt Graumann. Wer bei jungen Leuten echtes Interesse und emotionale Empathie wecke, auch bei jenen ohne deutsche Vorfahren, erreiche Wichtiges nicht nur für das Gedenken, sondern noch mehr für die Demokratie heute.

Der Zentralratspräsident freut sich immer über Initiativen von Lehrern und Klassen, Stolpersteine zu verlegen. Dafür recherchierten die Schüler die Lebensdaten von deportierten und ermordeten Menschen und kümmerten sich dann darum, dass die Stolpersteine regelmäßig gesäubert würden, oder legten am 9. November (dem Jahrestag der Pogromnacht) Blumen dort nieder.

Das sei eine Form des nachhaltigen Gedenkens. Ebenso fänden sich immer wieder engagierte Lehrer oder Schulleiter, die Fahrten zu Gedenkstätten organisieren. Graumann unterstützt das nachdrücklich: "Meines Erachtens sollte jeder Schüler wenigstens einmal in seiner Schulzeit ein ehemaliges KZ besichtigt haben."

Und wie präsent empfinden die Juden heute das Wissen um den Holocaust? Graumann gibt darauf eine doppelte Antwort. Einerseits zieht er den Hut vor der aktuellen Forschung. "Eine ganz neue Generation von Historikern bringt nach wie vor neue Fakten ans Licht und vergrößert unser Wissen über die Shoa und das NS-System", lobt er. Das sei gar nicht hoch genug einzuschätzen. Andererseits könne Deutschland aber noch mehr Erinnerungsarbeit gebrauchen. Denn bei Umfragen zeige sich häufig, dass "gerade in der jüngeren Generation die Kenntnisse über die NS-Zeit erschreckend gering" seien.

Freilich dürfe das nicht dazu führen, dass Jugendliche den Eindruck bekämen, sie sollten sich schuldig oder verantwortlich fühlen für das, was damals geschah. "Das darf natürlich nicht sein", unterstreicht Graumann.

Dennoch gibt es an diesem Holocaust-Gedenktag Anlass für höchste Beunruhigung. Graumann bereitet vor allem Sorge, "dass heutzutage das Wort ,Jude' auf deutschen Schulhöfen als Schimpfwort benutzt wird und es offenbar keinen zu kümmern scheint".

Der Zentralratspräsident verweist zudem auf den alarmierenden Umstand, dass es "wieder Plätze in Deutschland gibt, an denen man jüdischen Menschen rät, lieber nicht hinzugehen" oder sich dort nicht "als Juden erkennbar" zu zeigen, also mit jüdischen Symbolen wie Kippa oder einer Davidsternkette. Graumanns Appell an Gesellschaft und Politik: "Wir, die jüdische Gemeinschaft, werden uns zwar niemals einschüchtern lassen, aber wichtig ist, dass niemand in Deutschland so eine Situation akzeptieren sollte."

Deshalb sei es nicht nur wichtig, Empathie für die Opfer zu wecken, sondern auch zu vermitteln, welche Bedeutung heute noch die Shoa habe. Es sei heute wichtig zu lernen, wie eine Minderheit systematisch ausgegrenzt, geächtet, entrechtet und schließlich bis zur Vernichtung verfolgt wurde.

In diesem Zusammenhang verweist Graumann auf rechtsextreme Parteien wie die NPD, bei denen sich aktuell beobachten lasse, wie sie gegen Ausländer und Flüchtlinge hetzten. Er sei "schon lange mehr als überzeugt, dass so eine Partei verboten gehört". Vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheit lasse sich die hohe Bedeutung der Menschenrechte, der demokratischen Werte und eines solidarischen Miteinanders eindrücklich vermitteln.

Aber auch die Politik muss nach Überzeugung Graumanns ihre Hausaufgaben noch machen. Ohne Zweifel habe sich Deutschland mit seiner düsteren Vergangenheit auseinandergesetzt. Gespräche mit Zeitzeugen seien üblich geworden, in den Gedenkstätten werde auf vielfältige Weise die Erinnerungen der Überlebenden festgehalten. "Dennoch wünsche ich mir manchmal eine noch größere Sensibilität im Umgang mit den Betroffenen", erläutert Graumann. Das heiße etwa, dass "die neue Bundesregierung bald ihr Versprechen einlöst, endlich die noch ausstehenden Ghetto-Renten nachzuzahlen". Viel Zeit bleibt nicht mehr.

(may-)
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